Lumpengesindel
Grimm Band 3: Tiere & Menschen – 2022
Lumpengesindel
Tiere & Menschen
Grimm Gesamtausgabe Rodung Kreuzung Lichtung
Neu bebildert von Henrik Schrat
Vorbemerkung Heinz Rölleke
Nachwort von Michael Glasmeier
264 Seiten, etwa 350 Abbildungen, 34 €
Hardcover, Geprägter fellartiger Bezug / Farbiger Buchschnitt
Verlag Textem, Hamburg
Buchgestaltung: Interkool/Christoph Steinegger
Druckhaus Memmingen
Gewidmet ist das Buch der Künstlerin Unica Zürn
Er fasst sich weich an, der dritte Band, und wird wieder in schwarz-weiß gehalten sein. Das Buch ist ein Tier, der Buchschnitt olivgrün, und das Lesebändchen rosa. Die Zunge. Das weiche, aquarellige der Zeichnungen des zweiten Bandes weicht feiner Schraffur. Zum Pinsel kommt die Feder hinzu. Die Doppelseiten, die Band 2 als offene Landschaften der Reise bestimmten, verschwinden wieder. Es gibt viele Einzelobjekte, die sich vergnüglich auf der Seite herumtreiben. Kritzel Kratzel wäre das Geräusch, das Band 3 macht.
Einige berühmte Märchen des Bandes werden sein: Die Bremer Stadtmusikanten, Der Wolf und die sieben jungen Geisslein, Tischlein deck dich, Der Froschkönig, Hase und Igel, Der gestiefelte Kater. Weniger bekannt sind Das Märchen von der Unke, Vom Tod des Hühnchens, und Die Wassernixe, und gegen Ende gibt’s die Gänsehirtin am Brunnen, eines der wirklich schönsten Märchen überhaupt, und mein Langzeit-Favorit: Die Rabe.
Die Relation zwischen Mensch und Tier steht im Zentrum von Band 3. Tiere tauchen vielgestaltig in der Kunst auf seit der Antike, gern in den wundersamsten Mischformen. Sie werden meist als Personifizierung bestimmter Charaktereigenschaften oder Möglichkeiten des Menschen gesehen. Die Grimmschen Texte bilden keine Ausnahme. Viele ihrer Tiermärchen sind nicht sehr bekannt. Wenn Tiere nun hier der Platzhalter für Menschliches und Unmenschliches sind, sind dann auch die Menschen Platzhalter für Tiere? Der Übergang zwischen Tier und Mensch ist der Verweis auf das Kreatürliche, das Wesenhafte, das den Kern von Band 3 ausmacht.
Dabei ist die Funktion der Tierfiguren in den Texten verschieden. Manche Texte erinnern an Fabeln, in anderen formuliert das Verhältnis Menschen – Tiere eine Erweiterung der Fähigkeiten und Sinne. Des weiteren gibt es da noch das Tier als ‚Das Andere‘ das Jenseitige. Auch die Textformen in Band 3 sind diverser als in den vorangegangenen Bänden. Es gibt Moralisches, vor allem in den Fabeln, es gibt jede Menge Witz, auf der anderen Seite Surreales, Unverständliches und Dunkles. Es gibt Erzählfiguren, die uns aus 1001 Nacht vertraut sind, die deutlich mehr fabulieren als sonst bei den Grimms üblich, und es gibt Texte, die eher zu den Sagen zu zählen scheinen, bis hin zur Schildbürgergeschichte ‚Die Eule‘.
Ein Spaziergang durch den dramaturgischen Bogen des Buches:
Vorspiel: Der alte Sultan wird das Buch eröffnen: Der alte Sultan ist ein alter Hund, den sein Herrchen loswerden will. In diesem Tenor klettern wir die Leiter hinauf bis zu den fulminanten Bremer Stadtmusikanten, den alten (unfähigen) Tieren, die ihre Fähigkeiten neu definieren und durchschlagenden Erfolg haben.
1. Akt.
Wir rutschen ins Fabelreich, Der Fuchs und die Gänse, rasch wird es absurd, und die dunkle Seite erscheint. Mit Lumpengesindel und Läuschen und Flöhchen, wo offensichtlich der Wahnsinn alles befällt, erreicht der Akt seinen Höhepunkt, um mit der regelrecht vernünftigen Machtparabel Katz und Maus in Gesellschaft zu enden.
2. Akt.
Viel ist von den klassischen Figuren Schlange, Katze, Fuchs und Wolf die Rede, oft sind Tiere die Erweiterung von Fähigkeiten. Tier und Mensch arbeiten zusammen oder setzen sich auseinander. Der gestiefelte Kater, ist Höhepunkt. Ein Text, der nur in der allerersten Ausgabe der Grimms vorkam und dann gestrichen wurde. Der Kater war zu nah an einem Text des Franzosen Perrault, und damit wohl zu französisch, was damals (Napoleon) nicht so gut ankam. Die Wassernixe als Flucht vor dem Tierischen beendet den Akt.
3. Akt
Die Eule, die das Andere innerhalb der Menschenwelt darstellt, eröffnet den nun „diesseitigen“ Teil des Bandes. Wir befinden uns wieder in einer klassischen Märchenwelt. Der Spielhansel zieht Parallelen zu Band 1 Himmel und Hölle, und ruft das Spiel als menschliche, besessene Form des nicht rationalen auf. Schiller hat gesagt, das der Mensch nur im Spiel bei sich ist, eine Nahtstelle zu Tieren, die gelegentlich die besseren Menschen sind. Tiere erscheinen als Möglichkeiten, Verwandlungen und Wunder im dritten Teil, bis im letzten Text Die Rabe endlich ihre Menschgestalt, ihre Vernunftbegabung zurückerhält.