Die Texte für Band 5 sind hier nur zur Information, sie enthalten noch unendlich viele Tippfehler und anderen Kram und müssen noch ausführlich lektoriert werden.

Die Lebenszeit

Als Gott die Welt geschaffen hatte und allen Kreaturen ihre Lebenszeit bestimmen wollte, kam der Esel und fragte ‚Herr, wie lange soll ich leben?‘ ‚Dreißig Jahre,‘ antwortete Gott, ‚ist dir das recht?‘ ‚Ach Herr,‘ erwiderte der Esel, ‚das ist eine lange Zeit. Bedenke mein mühseliges Dasein: von Morgen bis in die Nacht schwere Lasten tragen, Kornsäcke in die Mühle schleppen, damit andere das Brot essen, mit nichts als mit Schlägen und Fußtritten ermuntert und aufgefrischt zu werden! erlaß mir einen Teil der langen Zeit.‘ Da erbarmte sich Gott und schenkte ihm achtzehn Jahre. Der Esel ging getröstet weg, und der Hund erschien. ‚Wie lange willst du leben?‘ sprach Gott zu ihm, ‚dem Esel sind dreißig Jahre zu viel, du aber wirst damit zufrieden sein.‘ ‚Herr,‘ antwortete der Hund, ‚ist das dein Wille? bedenke, was ich laufen muß, das halten meine Füße so lange nicht aus; und habe ich erst die Stimme zum Bellen verloren und die Zähne zum Beißen, was bleibt mir übrig, als aus einer Ecke in die andere zu laufen und zu knurren?‘ Gott sah, daß er recht hatte, und erließ ihm zwölf Jahre. Darauf kam der Affe. ‚Du willst wohl gerne dreißig Jahre leben?‘ sprach der Herr zu ihm, ‚du brauchst nicht zu arbeiten wie der Esel und der Hund, und bist immer guter Dinge.‘ ‚Ach Herr,‘ antwortete er, ‚das sieht so aus, ist aber anders. Wenns Hirsenbrei regnet, habe ich keinen Löffel. Ich soll immer lustige Streiche machen, Gesichter schneiden, damit die Leute lachen, und wenn sie mir einen Apfel reichen und ich beiße hinein, so ist er sauer. Wie oft steckt die Traurigkeit hinter dem Spaß! Dreißig Jahre halte ich das nicht aus.‘ Gott war gnädig und schenkte ihm zehn Jahre.

Endlich erschien der Mensch, war freudig, gesund und frisch und bat Gott, ihm seine Zeit zu bestimmen. ‚Dreißig Jahre sollst du leben,‘ sprach der Herr, ‚ist dir das genug?‘ ‚Welch eine kurze Zeit!‘ rief der Mensch, ‚wenn ich mein Haus gebaut habe, und das Feuer auf meinem eigenen Herde brennt: wenn ich Bäume gepflanzt habe, die blühen und Früchte tragen, und ich meines Lebens froh zu werden gedenke, so soll ich sterben! o Herr, verlängere meine Zeit.‘ ‚Ich will dir die achtzehn Jahre des Esels zulegen,‘ sagte Gott. ‚Das ist nicht genug,‘ erwiderte der Mensch. ‚Du sollst auch die zwölf Jahre des Hundes haben.‘ ‚Immer noch zu wenig.‘ ‚Wohlan,‘ sagte Gott, ‚ich will dir noch die zehn Jahre des Affen geben, aber mehr erhältst du nicht.‘ Der Mensch ging fort, war aber nicht zufriedengestellt.

Also lebt der Mensch Siebeinzig Jahr. Die ersten dreißig sind seine menschlichen Jahre, die gehen schnell dahin; da ist er gesund, heiter, arbeitet mit Lust und freut sich seines Daseins. Hierauf folgen die achtzehn Jahre des Esels, da wird ihm eine Last nach der andern aufgelegt: er muß das Korn tragen, das andere nährt, und SchIäge und Tritte sind der Lohn seiner treuen Dienste. Dann kommen die zwölf Jahre des Hundes, da liegt er in den Ecken, knurrt und hat keine Zähne mehr zum Beißen. Und wenn diese Zeit vorüber ist, so machen die zehn Jahre des Affen den Beschluß. Da ist der Mensch schwachköpfig und närrisch, treibt alberne Dinge und wird ein Spott der Kinder.

Das Hirtenbüblein
Es war einmal ein Hirtenbübchen, das war wegen seiner weisen Antworten, die es auf alle Fragen gab, weit und breit berühmt. Der König des Landes hörte auch davon, glaubte es nicht und ließ das Bübchen kommen. Da sprach er zu ihm: „Kannst du mir auf drei Fragen, die ich dir vorlegen will, Antwort geben, so will ich dich ansehen wie mein eigen Kind, und du sollst bei mir in meinem königlichen Schloss wohnen.“ Sprach das Büblein: „Wie lauten die drei Fragen?“ Der König sagte: „Die erste lautet: wie viel Tropfen Wasser sind in dem Weltmeer?“ Das Hirtenbüblein antwortete: „Herr König, lasst alle Flüsse auf der Erde verstopfen, damit kein Tröpflein mehr daraus ins Meer lauft, das ich nicht erst gezählt habe, so will ich Euch sagen, wie viel Tropfen im Meere sind.“ Sprach der König: „Die andere Frage lautet: wie viel Sterne stehen am Himmel?“ Das Hintenbübchen sagte: „Gebt mir einen großen Bogen weiß Papier,“ und dann machte es mit der Feder so viel feine Punkte darauf, dass sie kaum zu sehen und fast gar nicht zu zählen waren und einem die Augen vergingen, wenn man darauf blickte. Darauf sprach es: „So viel Sterne stehen am Himmel, als hier Punkte auf dem Papier, zählt sie nur.“ Aber niemand war dazu imstand. Sprach der König: „Die dritte Frage lautet: wie viel Sekunden hat die Ewigkeit?“ Da sagte das Hirtenbüblein: „In Hinterpommern liegt der Demantberg, der hat eine Stunde in die Höhe, eine Stunde in die Breite und eine Stunde in die Tiefe; dahin kommt alle hundert Jahr ein Vöglein und wetzt sein Schnäbelein daran, und wenn der ganze Berg abgewetzt ist, dann ist die erste Sekunde von der Ewigkeit vorbei.“

Sprach der König: „Du hast die drei Fragen aufgelöst wie ein Weiser und sollst fortan bei mir in meinem königlichen Schlosse wohnen, und ich will dich ansehen wie mein eigenes Kind.“

Das Goldei.

Es waren einmal ein paar arme Besenbindersjungen, die hatten noch ein Schwesterchen zu ernähren, da ging es ihnen allen knapp und kümmerlich. Sie mußten alle Tage in den Wald und sich Reisig holen, und wenn die Besen gebunden waren, verkaufte sie das Schwesterchen. Einsmals gingen sie in den Wald, und der jüngste stieg auf einen Birkenbaum, und wollte die Aeste herabhauen, da fand er ein Nest, und darin saß ein dunkelfarbiges Vögelchen, dem schimmerte etwas durch die Flügel, und weil das Vögelchen gar nicht wegflog, und auch nicht scheu that, hob er den Flügel auf und fand ein goldenes Ei, das nahm er und stieg da mit herab. Sie freuten sich über ihren Fund, und gingen damit zum Goldschmid, der sagte, es sey feines Gold und gab ihnen viel Geld dafür. Am andern Morgen gingen sie wieder in den Wald, und fanden auch wieder ein Goldei, und das Vöglein ließ es sich geduldig nehmen, wie das vorigemal. Das währte eine Zeitlang, alle Morgen holten sie das Goldei und waren bald reich: eines Morgens aber sagte der Vogel: „nun werde ich keine Eier mehr legen, aber bringt mich zu dem Goldschmidt, das wird euer Glück seyn.“ Die Besenbindersjungen thaten, wie es sprach und brachten es dem Goldschmidt getragen, und als es allein mit diesem war, sang es:

Wer ißt mein Herzlein,
wird bald König seyn;
wer ißt mein Leberlein,
findet alle Morgen unterm Kissen ein Goldbeutlein!“

Wie der Goldschmidt das hörte, rief er die beiden Jungen und sagte: „laßt mir den Vogel, und ich will euer Schwesterlein heirathen.“ Die zwei sagten ja, und da ward nun Hochzeit gehalten. Der Goldschmidt aber sprach: „ich will zu meiner Hochzeit den Vogel essen, ihr zwei, bratet ihn am Spieße, und habt Acht, daß er nicht verdirbt, und bringt ihn herauf, wenn er gaar ist;“ er dachte aber, dann wolle er Herz und Leber herausnehmen und essen. Die beiden Brüder standen am Spieß und drehten ihn herum, wie sie ihn so herumdrehen, und der Vogel bald gebraten ist, fällt ein Stückchen heraus. „Ei, sagt der eine, das muß ich probiren!“ und aß das auf. Bald darnach fiel noch ein Stückchen heraus: „das ist für mich,“ sagte der andere, und läßt sich das schmecken. Das war aber das Herzlein und Leberlein, was sie gegessen hatten, und sie wußten nicht, was für Glück ihnen damit beschert war.

Darnach war der Vogel gebraten, und sie trugen ihn zu der Hochzeitstafel; der Goldschmidt schnitt ihn auf, und wollte geschwind Herz und Leber essen, aber da war beides fort. Da ward er giftig bös und schrie: „wer hat Herz und Leber von dem Vogel gegessen?“ „Das werden wir gethan haben, sagten sie, es sind ein paar Stückchen herausgefallen beim Umwenden, die haben wir genommen.“ – „Habt ihr Herz und Leber gegessen, so mögt ihr auch eure Schwester behalten!“ und jagte sie in seinem Zorn alle fort. –

Der Sperling und seine vier Kinder


Ein Sperling hatte vier Junge in einem Schwalbennest. Wie sie nun flügge sind, stoßen böse Buben das Nest ein, sie kommen aber alle glücklich in Windbraus davon. Nun ist dem Alten leid, weil seine Söhne in die Welt kommen, daß er sie nicht vor allerlei Gefahr erst verwarnet und ihnen gute Lehren fürgesagt habe.

Aufn Herbst kommen in einem Weizenacker viel Sperlinge zusammen, allda trifft der Alte seine vier Jungen an, die führe er voll Freuden mit sich heim. ‚Ach, meine lieben Söhne, was habe ihr mir den Sommer über Sorge gemacht, dieweil ihr ohne meine Lehre in Winde kamet; höret meine Worte und folget eurem Vater und sehet euch wohl vor: kleine Vöglein haben große Gefährlichkeit auszustehen!‘ Darauf fragte er den ältern, wo er sich den Sommer über aufgehalten und wie er sich ernähret hätte. ‚Ich habe mich in den Gärten gehalten, Räuplein und Würmlein gesucht, bis die Kirschen reif wurden.‘ ‚Ach, mein Sohn,‘ sagte der Vater, ‚die Schnabelweid ist nicht bös, aber es ist große Gefahr dabei, darum habe fortan deiner wohl acht, und sonderlich, wenn Leut in Gärten umhergehen, die lange grüne Stangen tragen, die inwendig hohl sind und oben ein Löchlein haben.‘ ‚Ja, mein Vater, wenn dann ein grün Blättlein aufs Löchlein mit Wachs geklebt wäre?‘ spricht der Sohn. ‚Wo hast du das gesehen?‘ ‚In eines Kaufmanns Garten,‘ sagt der Junge. ‚O mein Sohn,‘ spricht der Vater, ‚Kaufleut, geschwinde Leut! bist du um die Weltkinder gewesen, so hast du Weltgeschmeidigkeit genug gelernt, siehe und brauchs nur recht wohl und trau dir nicht zuviel.‘

Darauf befragt er den andern ‚wo hast du dein Wesen gehabt?‘ ‚Zu Hofe,‘ spricht der Sohn. ‚Sperling und alberne Vöglein dienen nicht an diesem Ort, da viel Gold, Sammet, Seiden, Wehr, Harnisch, Sperber, Kauzen und Blaufüß sind, halt dich zum Roßstall, da man den Hafer schwingt, oder wo man drischet, so kann dirs Glück mit gutem Fried auch dein täglich Körnlein bescheren.‘ ‚Ja, Vater,‘ sagte dieser Sohn, ‚wenn aber die Stalljungen Hebritzen machen und ihre Maschen und Schlingen ins Stroh binden, da bleibt auch mancher behenken.‘ ‚Wo hast du das gesehen?‘ sagte der Alte. ‚Zu Hof, beim Roßbuben.‘ ‚O, mein Sohn, Hofbuben, böse Buben! bist du zu Hof und um die Herren gewesen und hast keine Federn da gelassen, so hast du ziemlich gelernt und wirst dich in der Welt wohl wissen auszureißen, doch siehe dich um und auf: die Wölfe fressen auch oft die gescheiten Hündlein.‘

Der Vater nimmt den dritten auch vor sich ‚wo hast du dein Heil versuche?‘ ‚Auf den Fahrwegen und Landstraßen hab ich Kübel und Seil eingeworfen und da bisweilen ein Körnlein oder Gräuplein angetroffen.‘ ‚Dies ist ja,‘ sage der Vater, ‚eine feine Nahrung, aber merk gleichwohl auf die Schanz und siehe fleißig auf, sonderlich wenn sich einer bücket und einen Stein aufheben will, da ist dir nicht lang zu bleiben.‘ ‚Wahr ists,‘ sage der Sohn, ‚wenn aber einer zuvor einen Wand- oder Handstein im Busen oder Tasche trüge?‘ ‚Wo hast du dies gesehen?‘ ‚Bei den Bergleuten, lieber Vater, wenn sie ausfahren, führen sie gemeinlich Handsteine bei sich.‘ ‚Bergleut, Werkleut, anschlägige Leut! bist du um Bergburschen gewesen, so hast du etwas gesehen und erfahren.

Fahr hin und nimm deiner Sachen gleichwohl gut acht, Bergbuben haben manchen Sperling mit Kobold umbracht.‘

Endlich komme der Vater an jüngsten Sohn ‚du mein liebes Gackennestle, du warst allzeit der alberst und schwächest, bleib du bei mir, die Welt hat viel grober und böser Vögel, die krumme Schnäbel und lange Krallen haben und nur auf arme Vöglein lauern und sie verschlucken: halt dich zu deinesgleichen und lies die Spinnlein und Räuplein von den Bäumen oder Häuslein, so bIeibst du lang zufrieden.‘ ‚Du, mein lieber Vater, wer sich nährt ohn andrer Leut Schaden, der kommt lang hin, und kein Sperber, Habicht, Aar oder Weih wird ihm nicht schaden, wenn er zumal sich und seine ehrliche Nahrung dem lieben Gott all Abend und Morgen treulich befiehlt, welcher aller Wald- und Dorfvöglein Schöpfer und Erhalter ist, der auch der jungen Räblein Geschrei und Gebet höret, denn ohne seinen Willen fällt auch kein Sperling oder Schneekünglein auf die Erde.‘ ‚Wo hast du dies gelernt?‘ Antwortet der Sohn ‚wie mich der große Windbraus von dir wegriß, kam ich in eine Kirche, da las ich den Sommer die Fliegen und Spinnen von den Fenstern ab und hörte diese Sprüch predigen, da hat mich der Vater aller Sperlinge den Sommer über ernährt und behütet vor allem Unglück und grimmigen Vögeln.‘ ‚Traun! mein lieber Sohn, fleuchst du in die Kirchen und hilfest Spinnen und die sumsenden Fliegen aufräumen und zirpst zu Gott wie die jungen Räblein und befiehlst dich dem ewigen Schöpfer, so wirst du wohl bleiben, und wenn die ganze Welt voll wilder tückischer Vögel wäre.

Denn wer dem Herrn befiehlt seine Sach,
schweigt, leidet, wartet, betet, brauche Glimpf, tut gemach,
bewahrt Glaub und gut Gewissen rein,
dem will Gore Schutz und Helfer sein.‘

Das Lämmchen und das Fischchen
Es war einmal ein Brüderchen und Schwesterchen, die hatten sich herzlich lieb. Ihre rechte Mutter war aber tot, und sie hatten eine Stiefmutter, die war ihnen nicht gut und tat ihnen heimlich alles Leid an. Es trug sich zu, daß die zwei mit andern Kindern auf einer Wiese vor dem Haus spielten, und an der Wiese war ein Teich, der ging bis an die eine Seite vom Haus. Die Kinder liefen da herum, kriegten sich und spielten Abzählens:

‚Eneke, Beneke, lat mi liewen,
will di ock min Vügelken giewen.
Vügelken sall mi Strau söken,
Serau will ick den Köseken giewen,
Köseken sall mie Melk giewen,
Melk will ich den Bäcker giewen,
Bäcker sall mie ’n Kocken backen,
Kocken will ick den Kätken giewen,
Kätken sall mie Müse fangen,
Müse will ick in ’n Rauck hangen
un will se anschnien.‘

Dabei standen sie in einem Kreis, und auf welchen nun das Wort ‚anschnien‘ fiel, der mußte fortlaufen, und die anderen liefen ihm nach und fingen ihn. Wie sie so fröhlich dahinsprangen, sahs die Stiefmutter vom Fenster mit an und ärgerte sich. Weil sie aber Hexenkünste verstand, so verwünschte sie beide, das Brüderchen in einen Fisch und das Schwesterchen in ein Lamm. Da schwamm das Fischchen im Teich hin und her, und war traurig, das Lämmchen ging auf der Wiese hin und her, und war traurig und fraß nicht und rührte kein Hälmchen an. So ging eine lange Zeit hin, da kamen fremde Gäste auf das Schloß. Die falsche Stiefmutter dachte ‚jetzt ist die Gelegenheit gut,‘ rief den Koch und sprach zu ihm ‚geh und hol das Lamm von der Wiese und schlachts, wir haben sonst nichts für die Gäste.‘ Da ging der Koch hin und holte das Lämmchen und führte es in die Küche und band ihm die Füßchen; das litt es alles geduldig. Wie er nun sein Messer herausgezogen hatte und auf der Schwelle wetzte, um es abzustechen, sah es, wie ein Fischlein in dem Wasser vor dem Gossenstein hin und her schwamm und zu ihm hinaufblickte. Das war aber das Brüderchen, denn als das Fischchen gesehen hatte, wie der Koch das Lämmchen fortführte, war es im Teich mitgeschwommen bis zum Haus. Da rief das Lämmchen hinab

‚ach Brüderchen im tiefen See,
wie tut mir doch mein Herz so weh!
der Koch, der wetzt das Messer,
will mir mein Herz durchstechen.‘

Das Fischchen antwortete

‚ach Schwesterchen in der Höh,
wie tut mir doch mein Herz so weh
in dieser tiefen See!‘

Wie der Koch hörte, daß das Lämmchen sprechen konnte um! so traurige Worte zu dem Fischchen hinabrief, erschrak er und dachte, es müßte kein natürliches Lämmchen sein, sondern wäre von der bösen Frau im Haus verwünscht. Da sprach er ’sei ruhig, ich will dich nicht schlachten,‘ nahm ein anderes Tier und bereitete das für die Gäste, und brachte das Lämmchen zu einer guten Bäuerin, der erzählte er alles, was er gesehen und gehört hatte. Die Bäuerin war aber gerade die Amme von dem Schwesterchen gewesen, vermutete gleich, wers sein würde, und ging mit ihm zu einer weisen Frau. Da sprach die weise Frau einen Segen über das Lämmchen und Fischchen, wovon sie ihre menschliche Gestalt wiederbekamen, und danach führte sie beide in einen großen Wald in ein klein Häuschen wo sie einsam, aber zufrieden und glücklich lebten.

Brüderchen und Schwesterchen

Brüderchen nahm sein Schwesterchen an der Hand und sprach: „Seit die Mutter tot ist, haben wir keine gute Stunde mehr. Die Stiefmutter schlägt uns alle Tage, und wenn wir zu ihr kommen, stößt sie uns mit den Füßen fort. Die harten Brotkrusten, die übrig bleiben, sind unsere Speise, und dem Hündlein unter dem Tisch geht’s besser, dem wirft sie doch manchmal einen guten Bissen zu. Daß Gott erbarm! Wenn das unsere Mutter wüßte! Komm, wir wollen miteinander in die weite Welt gehen!“ Sie gingen den ganzen Tag über Wiesen, Felder und Steine, und wenn es regnete, sprach das Schwesterchen: „Gott und unsere Herzen, die weinen zusammen!“ Abends kamen sie in einen großen Wald und waren so müde von Jammer, Hunger und dem langen Weg, daß sie sich in einen hohlen Baum setzten und einschliefen.

Am anderen Morgen, als sie aufwachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel und schien heiß in den Baum hinein. Da sprach das Brüderchen: „Schwesterchen, mich dürstet, wenn ich ein Brünnlein wüßte, ich ging und tränk einmal; ich mein, ich hört eins rauschen.“ Brüderchen stand auf, nahm Schwesterchen an der Hand, und sie wollten das Brünnlein suchen. Die böse Stiefmutter aber war eine Hexe und hatte wohl gesehen, wie die beiden Kinder fortgegangen waren, war ihnen nachgeschlichen, heimlich, wie die Hexen schleichen, und hatte alle Brunnen im Walde verwünscht. Als sie nun ein Brünnlein fanden, daß so glitzerig über die Steine sprang, wollte das Brüderchen daraus trinken. Aber das Schwesterchen hörte, wie es im Rauschen sprach: „Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger, wer aus mir trinkt, wird ein Tiger.“ – Da rief das Schwesterchen: „Ich bitte dich, Brüderlein, trink nicht, sonst wirst du ein wildes Tier und zerreißest mich!“ Das Brüderchen trank nicht, ob es gleich so großen Durst hatte, und sprach: „Ich will warten, bis zur nächsten Quelle.“ Als sie zum zweiten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterchen, wie auch dieses sprach: „Wer aus mir trinkt, wird ein Wolf, wer aus mir trinkt, wird ein Wolf.“ Da rief das Schwesterchen: „Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du ein Wolf und frissest mich!“ – Das Brüderchen trank nicht und sprach: „Ich will warten, bis wir zur nächsten Quelle kommen, aber dann muß ich trinken, du magst sagen, was du willst, mein Durst ist gar zu groß.“ Und als sie zum dritten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterlein, wie es im Rauschen sprach: „Wer aus mir trinkt, wird ein Reh; wer aus mir trinkt, wird ein Reh.“ Das Schwesterchen sprach: „Ach Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du ein Reh und läufst mir fort.“ Aber das Brüderchen hatte sich gleich beim Brünnlein niedergekniet, hinabgebeugt und von dem Wasser getrunken und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen waren, lag es da als ein Rehkälbchen.

Nun weinte das Schwesterchen über das arme verwünschte Brüderchen, und das Rehchen weinte auch und saß so traurig neben ihm. Da sprach das Mädchen endlich: „Sei still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen.“ Dann band es sein goldenes Strumpfband ab, tat es dem Rehchen um den Hals und rupfte Binsen und flocht ein weiches Seil daraus. Daran band es das Tierchen und führte es weiter und ging immer tiefer in den Wald hinein. Und als sie lange, lange gegangen waren, kamen sie endlich an ein kleines Haus, und das Mädchen schaute hinein, und weil es leer war, dachte es: Hier können wir bleiben und wohnen. Da suchte es dem Rehchen Laub und Moos zu einem weichen Lager, und jeden Morgen ging es aus und sammelte sich Wurzeln, Beeren und Nüsse, und für das Rehchen brachte es zartes Gras mit, das fraß es ihm aus der Hand, war vergnügt und spielte vor ihm herum. Abends wenn Schwesterchen müde war und sein Gebet gesagt hatte, legte es seinen Kopf auf den Rücken des Rehkälbchens, das war sein Kissen, darauf es sanft einschlief. Und hätte das Brüderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, es wäre ein herrliches Leben gewesen.

Das dauerte eine Zeitlang, daß sie so allein in der Wildnis waren. Es trug sich aber zu, daß der König des Landes eine große Jagd in dem Wald hielt. Da schallte das Hörnerblasen, Hundegebell und das lustige Geschrei der Jäger durch die Bäume, und das Rehlein hörte es und wäre gar zu gerne dabei gewesen. „Ach!“ sprach es zu dem Schwesterlein, „laß mich hinaus in die Jagd, ich kann’s nicht länger mehr aushalten!“ und bat so lange, bis es einwilligte. „Aber,“ sprach es zu ihm, „komm mir ja abends wieder, vor den wilden Jägern schließ ich mein Türlein; und damit ich dich kenne, so klopf und sprich: ‚Mein Schwesterlein, laß mich herein!‘ Und wenn du nicht so sprichst, so schließ ich mein Türlein nicht auf.“ Nun sprang das Rehchen hinaus, und war ihm so wohl und war so lustig in freier Luft. Der König und seine Jäger sahen das schöne Tier und setzten ihm nach, aber sie konnten es nicht einholen und wenn sie meinten, sie hätten es gewiß, da sprang es über das Gebüsch weg und war verschwunden. Als es dunkel ward, lief es zu dem Häuschen, klopfte und sprach: „Mein Schwesterchen, laß mich herein!“ Da ward ihm die kleine Tür auf getan, es sprang hinein und ruhte sich die ganze Nacht auf seinem weichen Lager aus. Am andern Morgen ging die Jagd von neuem an, und als das Rehlein das HifTorn hörte und das „Ho, Ho!“ der Jäger, da hatte es keine Ruhe und sprach: „Schwesterchen, mach mir auf, ich muß hinaus.“ Das Schwesterchen öffnete ihm die Türe und sprach: „Aber zum Abend mußt du wieder da sein und dein Sprüchlein sagen,“ Als der König und seine Jäger das Rehlein mit dem goldenen Halsband wieder sahen, jagten sie ihm alle nach, aber es war ihnen zu schnell und behend. Das währte den ganzen Tag, endlich aber hatten es die Jäger abends umzingelt, und einer verwundete es ein wenig am Fuß, so daß es hinken mußte und langsam fortlief. Da schlich ihm ein Jäger nach bis zu dem Häuschen und hörte, wie es rief: „Mein Schwesterlein, laß mich herein!“ und sah, daß die Tür ihm auf getan und alsbald wieder zugeschlossen ward. Der Jäger behielt das alles wohl im Sinn, ging zum König und erzählte ihm, was er gesehen und gehört hatte. Da sprach der König: „Morgen soll noch einmal gejagt werden!“

Das Schwesterchen aber erschrak gewaltig, als es sah, daß sein Rehkälbchen verwundet war. Es wusch ihm das Blut ab, legte Kräuter auf und sprach: „Geh auf dein Lager, lieb Rehchen, daß du wieder heil wirst.“ Die Wunde aber war so gering, daß das Rehchen am Morgen nichts mehr davon spürte. Und als es die Jagdlust wieder draußen hörte, sprach es: „Ich kann’s nicht aushalten, ich muß dabei sein; so bald soll mich keiner kriegen!“ Das Schwesterchen weinte und sprach: „Nun werden sie dich töten, und ich bin hier allein im Walde und bin verlassen von aller Welt. Ich laß dich nicht hinaus.“ – „So sterb ich dir hier vor Betrübnis,“ antwortete das Rehchen, „wenn ich das HifTorn höre, so mein ich, ich müßt‘ aus den Schuhen springen!“ Da konnte das Schwesterchen nicht anders und schloß ihm mit schwerem Herzen die Tür auf, und das Rehchen sprang gesund und fröhlich in den Wald. Als es der König erblickte, sprach er zu seinen Jägern: „Nun jagt ihm nach den ganzen Tag bis in die Nacht, aber daß ihm keiner etwas zuleide tut!“ Sobald die Sonne untergegangen war, sprach der König zum Jäger: „Nun komm und zeige mir das Waldhäuschen!“ Und als er vor dem Türlein war, klopfte er an und rief: „Lieb Schwesterlein, laß mich herein!“ Da ging die Tür auf, und der König trat herein, und da stand ein Mädchen, das war so schön, wie er noch keins gesehen hatte. Das Mädchen erschrak, als es sah, daß nicht sein Rehlein, sondern ein Mann hereinkam, der eine goldene Krone auf dem Haupt hatte. Aber der König sah es freundlich an, reichte ihm die Hand und sprach: „Willst du mit mir gehen auf mein Schloß und meine liebe Frau sein?“ – „Ach ja,“ antwortete das Mädchen, „aber das Rehchen muß auch mit, das verlaß ich nicht.“ Sprach der König: „Es soll bei dir bleiben, solange du lebst, und soll ihm an nichts fehlen.“ Indem kam es hereingesprungen, da band es das Schwesterchen wieder an das Binsenseil, nahm es selbst in die Hand und ging mit ihm aus dem Waldhäuschen fort.

Der König nahm das schöne Mädchen auf sein Pferd und führte es in sein Schloß, wo die Hochzeit mit großer Pracht gefeiert wurde, und war es nun die Frau Königin, und lebten sie lange Zeit vergnügt zusammen; das Rehlein ward gehegt und gepflegt und sprang in dem Schloßgarten herum. Die böse Stiefmutter aber, um derentwillen die Kinder in die Welt hineingegangen waren, die meinte nicht anders, als Schwesterchen wäre von den wilden Tieren im Walde zerrissen worden und Brüderchen als ein Rehkalb von den Jägern totgeschossen. Als sie nun hörte, daß sie so glücklich waren, und es ihnen so wohlging, da wurden Neid und Mißgunst in ihrem Herzen rege und ließen ihr keine Ruhe, und sie hatte keinen anderen Gedanken, als wie sie die beiden doch noch ins Unglück bringen könnte. Ihre rechte Tochter, die häßlich war wie die Nacht und nur ein Auge hatte, die machte ihr Vorwürfe und sprach: „Eine Königin zu werden, das Glück hätte mir gebührt.“ – „Sei nur still,“ sagte die Alte und sprach sie zufrieden, „wenn’s Zeit ist, will ich schon bei der Hand sein.“ Als nun die Zeit herangerückt war und die Königin ein schönes Knäblein zur Welt gebracht hatte und der König gerade auf der Jagd war, nahm die alte Hexe die Gestalt der Kammerfrau an, trat in die Stube, wo die Königin lag, und sprach zu der Kranken: „Kommt, das Bad ist fertig, das wird Euch wohl tun und frische Kräfte geben. Geschwind, eh es kalt wird!“ Ihre Tochter war auch bei der Hand, sie trugen die schwache Königin in die Badstube und legten sie in die Wanne, dann schlössen sie die Tür ab und liefen davon. In der Badstube aber hatten sie ein rechtes Höllenfeuer angemacht, daß die schöne junge Königin bald ersticken mußte.

Als das vollbracht war, nahm die Alte ihre Tochter, setzte ihr eine Haube auf und legte sie ins Bett an der Königin Stelle. Sie gab ihr auch die Gestalt und das Aussehen der Königin; nur das verlorene Auge konnte sie ihr nicht wiedergeben. Damit es aber der König nicht merkte, mußte sie sich auf die Seite legen, wo sie kein Auge hatte. Am Abend, als er heim kam und hörte, daß ihm ein Söhnlein geboren war, freute er sich herzlich, und wollte ans Bett seiner lieben Frau gehen und sehen, was sie machte. Da rief die Alte geschwind: „Beileibe, laßt die Vorhänge zu, die Königin darf noch nicht ins Licht sehen und muß Ruhe haben!“ Der König ging zurück und wußte nicht, daß eine falsche Königin im Bette lag.

Als es aber Mitternacht war und alles schlief, da sah die Kinderfrau, die in der Kinderstube neben der Wiege saß und allein noch wachte, wie die Türe aufging und die rechte Königin hereintrat. Sie nahm das Kind aus der Wiege, legte es in ihren Arm und gab ihm zu trinken. Dann schüttelte sie ihm sein Kißchen, legte es wieder hinein und deckte es mit dem Deckbettchen zu. Sie vergaß aber auch das Rehchen nicht, ging in die Ecke, wo es lag, und streichelte ihm über den Rücken. Darauf ging sie ganz stillschweigend wieder zur Tür hinaus, und die Kinderfrau fragte am andern Morgen die Wächter, ob jemand während der Nacht ins Schloß gegangen wäre. Aber sie antworteten: „Nein, wir haben niemand gesehen.“

So kam sie viele Nächte und sprach niemals ein einziges Wort dabei; die Kinderfrau sah sie immer, aber sie getraute sich nicht, jemand etwas davon zu sagen.

Als nun so eine Zeit verflossen war, da hub die Königin in der Nacht an zu reden und sprach:

„Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?
Nun komm ich noch zweimal und dann nimmermehr.“

Die Kinderfrau antwortete ihr nicht, aber als sie wieder verschwunden war, ging sie zum König und erzählte ihm alles. Sprach der König: „Ach Gott! Was ist das! Ich will in der nächsten Nacht bei dem Kinde wachen.“ Abends ging er in die Kinderstube, aber um Mitternacht erschien die Königin wieder und sprach:

„Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?
Nun komm ich noch einmal und dann nimmermehr.“

Und pflegte dann des Kindes, wie sie gewöhnlich tat, ehe sie verschwand. Der König getraute sich nicht, sie anzureden, aber er wachte auch in der folgenden Nacht. Sie sprach abermals:

„Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?
Nun komm ich noch diesmal und dann nimmermehr.“

Da konnte sich der König nicht zurückhalten, sprang zu ihr und sprach: „Du kannst niemand anders sein, als meine liebe Frau!“ Da antwortete sie: „Ja, ich bin deine Frau,“ und hatte in dem Augenblick durch Gottes Gnade das Leben wiedererhalten, war frisch, rot und gesund. Darauf erzählte sie dem König den Frevel, den die böse Hexe und ihre Tochter an ihr verübt hatten. Der König ließ beide vor Gericht führen, und es ward ihnen das Urteil gesprochen. Die Tochter ward in den Wald geführt, wo sie die wilden Tiere zerrissen, die Hexe aber ward ins Feuer gelegt und mußte jammervoll verbrennen. Und wie sie zu Asche verbrannt war, verwandelte sich das Rehkälbchen und erhielt seine menschliche Gestalt wieder; Schwesterchen und Brüderchen aber lebten glücklich zusammen bis an ihr Ende.

Die zwölf Brüder

Es war einmal ein König und eine Königin, die lebten in Frieden miteinander und hatten zwölf Kinder, das waren aber lauter Buben. Nun sprach der König zu seiner Frau: “Wenn das dreizehnte Kind, das du zur Welt bringst, ein Mädchen ist, so sollen die zwölf Buben sterben, damit sein Reichtum groß wird und das Königreich ihm allein zufällt.” Er ließ auch zwölf Särge machen, die waren schon mit Hobelspänen gefüllt, und in jedem lag das Totenkissen, und ließ sie in eine verschlossene Stube bringen, dann gab er der Königin den Schlüssel und gebot ihr, niemand etwas davon zu sagen.

Die Mutter aber saß nun den ganzen Tag und trauerte, so daß der kleinste Sohn, der immer bei ihr war, und den sie nach der Bibel Benjamin nannte, zu ihr sprach: “Liebe Mutter, warum bist du so traurig?” – “Liebstes Kind,” antwortete sie, “ich darf dir’s nicht sagen.” Er ließ ihr aber keine Ruhe, bis sie ging und die Stube aufschloß und ihm die zwölf mit Hobelspänen schon gefüllten Totenladen zeigte. Darauf sprach sie: “Mein liebster Benjamin, diese Särge hat dein Vater für dich und deine elf Brüder machen lassen, denn wenn ich ein Mädchen zur Welt bringe, so sollt ihr allesamt getötet und darin begraben werden.” Und als sie weinte, während sie das sprach, so tröstete sie der Sohn und sagte: “Weine nicht, liebe Mutter, wir wollen uns schon helfen und wollen fortgehen.” Sie aber sprach: “Geh mit deinen elf Brüdern hinaus in den Wald, und einer setze sich immer auf den höchsten Baum, der zu finden ist, und halte Wacht und schaue nach dem Turm hier im Schloß. Gebär ich ein Söhnlein, so will ich eine weiße Fahne aufstecken, und dann dürft ihr wiederkommen; gebär ich ein Töchterlein, so will ich eine rote Fahne aufstecken, und dann flieht fort, so schnell ihr könnt, und der liebe Gott behüte euch. Alle Nacht will ich aufstehen und für euch beten, im Winter, daß ihr an einem Feuer euch wärmen könnt, im Sommer, daß ihr nicht in der Hitze schmachtet.”

Nachdem sie also ihre Söhne gesegnet hatte, gingen sie hinaus in den Wald. Einer hielt um den andern Wacht, saß auf der höchsten Eiche und schaute nach dem Turm. Als elf Tage herum waren und die Reihe an Benjamin kam, da sah er, wie eine Fahne aufgesteckt wurde. Es war aber nicht die weiße, sondern die rote Blutfahne, die verkündigte, daß sie alle sterben sollten. Wie die Brüder das hörten, wurden sie zornig und sprachen: “Sollten wir um eines Mädchens willen den Tod leiden! Wir schwören, daß wir uns rächen wollen. Wo wir ein Mädchen finden, soll sein Blut fließen.”

Darauf gingen sie tiefer in den Wald hinein, und mitten drein, wo er am dunkelsten war, fanden sie ein kleines verwünschtes Häuschen, das leer stand. Da sprachen sie: “Hier wollen wir wohnen und du, Benjamin, du bist der Jüngste und Schwächste, du sollst daheim bleiben und haushalten, wir andern wollen ausgehen und Essen holen.” Nun zogen sie in den Wald und schössen Hasen, wilde Rehe, Vögel und Täuberchen, und was zu essen stand, das brachten sie dem Benjamin, der mußte es ihnen zurecht machen, damit sie ihren Hunger stillen konnten. In dem Häuschen lebten sie zehn Jahre zusammen, und die Zeit ward ihnen nicht lang.

Das Töchterchen, das ihre Mutter, die Königin, geboren hatte, war nun herangewachsen, war gut von Herzen und schön von Angesicht und hatte einen goldenen Stern auf der Stirne. Einmal, als große Wäsche war, sah es darunter zwölf Mannshemden und fragte seine Mutter: “Wem gehören diese zwölf Hemden, für den Vater sind sie doch viel zu klein?” Da antwortete sie mit schwerem Herzen: “Liebes Kind, die gehören deinen zwölf Brüdern.” Sprach das Mädchen: “Wo sind meine zwölf Brüder? Ich habe noch niemals von ihnen gehört.” Sie antwortete: “Das weiß Gott, wo sie sind. Sie irren in der Welt herum.” Da nahm sie das Mädchen und schloß ihm das Zimmer auf und zeigte ihm die zwölf Särge mit den Hobelspänen und den Totenkissen. “Diese Särge,” sprach sie, “waren für deine Brüder bestimmt, aber sie sind heimlich fortgegangen, eh du geboren warst,” und erzählte ihm, wie sich alles zugetragen hatte. Da sagte das Mädchen: “Liebe Mutter, weine nicht, ich will gehen und meine Brüder suchen.”

Nun nahm es die zwölf Hemden und ging fort und geradezu in den großen Wald hinein. Es ging den ganzen Tag und am Abend kam es zu dem verwünschten Häuschen. Da trat es hinein und fand einen jungen Knaben, der fragte: “Wo kommst du her und wo willst du hin?” und erstaunte, daß sie so schön war, königliche Kleider trug und einen Stern auf der Stirn hatte. Da antwortete sie: “Ich bin eine Königstochter und suche meine zwölf Brüder und will gehen, so weit der Himmel blau ist, bis ich sie finde.” Sie zeigte ihm auch die zwölf Hemden, die ihnen gehörten. Da sah Benjamin, daß es seine Schwester war und sprach: “Ich bin Benjamin, dein jüngster Bruder.” Und sie fing an zu weinen vor Freude, und Benjamin auch, und sie küßten und herzten einander vor großer Liebe. Hernach sprach er: “Liebe Schwester, es ist noch ein Vorbehalt da, wir hatten verabredet, daß ein jedes Mädchen, das uns begegnete, sterben sollte, weil wir um ein Mädchen unser Königreich verlassen mußten.” Da sagte sie: “Ich will gerne sterben, wenn ich damit meine zwölf Brüder erlösen kann.” – “Nein,” antwortete er, “du sollst nicht sterben, setze dich unter diese Bütte, bis die elf Brüder kommen, dann will ich schon einig mit ihnen werden.” Also tat sie; und wie es Nacht ward, kamen die anderen von der Jagd, und die Mahlzeit war bereit. Und als sie am Tische saßen und aßen, fragten sie: “Was gibt’s Neues?” Sprach Benjamin: “Wißt ihr nichts?” – “Nein,” antworteten sie. Sprach er weiter: “Ihr seid im Walde gewesen, und ich bin daheim geblieben, und weiß doch mehr als ihr.” – “So erzähle uns,” riefen sie. Antwortete er: “Versprecht ihr mir auch, daß das erste Mädchen, das uns begegnet, nicht soll getötet werden?” – “Ja,” riefen sie alle, “das soll Gnade haben, erzähl uns nur!” Da sprach er: “Unsere Schwester ist da,” und hub die Bütte auf, und die Königstochter kam hervor, in ihren königlichen Kleidern mit dem goldenen Stern auf der Stirne, und war so schön, zart und fein. Da freuten sich alle, fielen ihr um den Hals und küßten sie und hatten sie von Herzen lieb.

Nun blieb sie bei Benjamin zu Haus und half ihm in der Arbeit. Die elfe zogen in den Wald, fingen Gewild, Rehe, Vögel und Täuberchen, damit sie zu essen hatten, und die Schwester und Benjamin sorgten, daß es zubereitet wurde. Sie suchte das Holz zum Kochen und die Kräuter zum Gemüs und stellte die Töpfe ans Feuer, also daß die Mahlzeit immer fertig war, wenn die elfe kamen. Sie hielt auch sonst Ordnung im Häuschen, und deckte die Bettlein hübsch weiß und rein, und die Brüder waren immer zufrieden und lebten in großer Einigkeit mit ihr.

Auf eine Zeit hatten die beiden daheim eine schöne Kost zurechtgemacht, und wie sie nun alle beisammen waren, setzten sie sich, aßen und tranken und waren voller Freude. Es war aber ein kleines Gärtchen an dem verwünschten Häuschen, darin standen zwölf Lilienblumen, die man auch Studenten heißt. Nun wollte sie ihren Brüdern ein Vergnügen machen, brach die zwölf Blumen ab und dachte, jedem aufs Essen eine zu schenken. Wie sie aber die Blumen abgebrochen hatte, in demselben Augenblick waren die zwölf Brüder in zwölf Raben verwandelt und flogen über den Wald hin fort, und das Haus mit dem Garten war auch verschwunden. Da war nun das arme Mädchen allein in dem wilden Wald, und wie es sich umsah, so stand eine alte Frau neben ihm, die sprach: “Mein Kind, was hast du angefangen? Warum hast du die zwölf weißen Blumen nicht stehen lassen? Das waren deine Brüder, die sind nun auf immer in Raben verwandelt.” Das Mädchen sprach weinend: “Ist denn kein Mittel, sie zu erlösen?” – “Nein,” sagte die Alte, “es ist keins auf der ganzen Welt, als eins, das ist aber so schwer, daß du sie damit nicht befreien wirst, denn du mußt sieben Jahre stumm sein, darfst nicht sprechen und nicht lachen, und sprichst du ein einziges Wort, und es fehlt nur eine Stunde an den sieben Jahren, so ist alles umsonst, und deine Brüder werden von dem einen Wort getötet.”

Da sprach das Mädchen in seinem Herzen: “Ich weiß gewiß, daß ich meine Brüder erlöse,” und ging und suchte einen hohen Baum, setzte sich darauf und spann, und sprach nicht und lachte nicht. Nun trug’s sich zu, daß ein König in dem Walde jagte, der hatte einen großen Windhund, der lief zu dem Baum, wo das Mädchen drauf saß, sprang herum, schrie und bellte hinauf. Da kam der König herbei und sah die schöne Königstochter mit dem goldenen Stern auf der Stirne, und war so entzückt über ihre Schönheit, daß er ihr zurief, ob sie seine Gemahlin werden wollte. Sie gab keine Antwort, nickte aber ein wenig mit dem Kopf. Da stieg er selbst auf den Baum, trug sie herab, setzte sie auf sein Pferd und führte sie heim. Da ward die Hochzeit mit großer Pracht und Freude gefeiert; aber die Braut sprach nicht und lachte nicht. Als sie ein paar Jahre miteinander vergnügt gelebt hatten, fing die Mutter des Königs, die eine böse Frau war, an, die junge Königin zu verleumden und sprach zum König: “Es ist ein gemeines Bettelmädchen, das du dir mitgebracht hast, wer weiß, was für gottlose Streiche sie heimlich treibt. Wenn sie stumm ist und nicht sprechen kann, so könnte sie doch einmal lachen, aber wer nicht lacht, der hat ein böses Gewissen.” Der König wollte zuerst nicht daran glauben, aber die Alte trieb es so lange und beschuldigte sie so viel böser Dinge, daß der König sich endlich überreden ließ und sie zum Tode verurteilte.

Nun ward im Hof ein großes Feuer angezündet, darin sollte sie verbrannt werden. Und der König stand oben am Fenster und sah mit weinenden Augen zu, weil er sie noch immer so lieb hatte. Und als sie schon an den Pfahl festgebunden war und das Feuer an ihren Kleidern mit roten Zungen leckte, da war eben der letzte Augenblick von den sieben Jahren verflossen. Da ließ sich in der Luft ein Geschwirr hören, und zwölf Raben kamen hergezogen und senkten sich nieder. Und wie sie die Erde berührten, waren es ihre zwölf Brüder, die sie erlöst hatte. Sie rissen das Feuer auseinander, löschten die Flammen, machten ihre liebe Schwester frei, und küßten und herzten sie. Nun aber, da sie ihren Mund auftun und reden durfte, erzählte sie dem Könige, warum sie stumm gewesen wäre und niemals gelacht hätte. Der König freute sich, als er hörte, daß sie unschuldig war, und sie lebten nun alle zusammen in Einigkeit bis an ihren Tod. Die böse Stiefmutter ward vor Gericht gestellt und in ein Faß gesteckt, das mit siedendem Öl und giftigen Schlangen angefüllt war, und starb eines bösen Todes.

135 Die weisse und die schwarze Braut – Provinienz nach Ehrhard hat sich verändert.

Falls Sie KHM 135 Die weiße und die schwarze Braut noch nicht illustriert hätten (ich könnte ja auch nachschauen), hätte ich noch etwas für Sie. Ich habe nämlich herausbekommen, dass hier die Provenienz nicht stimmt. Es kommt nicht aus dem Mecklenburgischen oder Paderbörnischen. Und damit hätten wir wieder eine hervorragend subtile Illustrationsidee. Der Aufsatz zur wahren Herkunft von KHM 135 erscheint in der nächsten Fabula und ich behalte noch alles für mich. Für Sie exklusiv und zum Geheimbehalten: Dorothea Viehmann

Eine Frau ging mit ihrer Tochter und Stieftochter über Feld, Futter zu schneiden. Da kam der liebe Gott als ein armer Mann zu ihnen gegangen und fragte ‚wo führt der Weg ins Dorf?‘ ‚Wenn Ihr ihn wissen wollt,‘ sprach die Mutter, ’so sucht ihn selber,‘ und die Tochter setzte hinzu ‚habt Ihr Sorge, daß Ihr ihn nicht findet, so nehmt Euch einen Wegweiser mit.‘ Die Stieftochter aber sprach ‚armer Mann, ich will dich führen, komm mit mir.‘ Da zürnte der liebe Gott über die Mutter und Tochter, wendete ihnen den Rücken zu und verwünschte sie, daß sie sollten schwarz werden wie die Nacht und häßlich wie die Sünde. Der armen Stieftochter aber war Gott gnädig und ging mit ihr, und als sie nahe am Dorf waren, sprach er einen Segen über sie und sagte ‚wähle dir drei Sachen aus, die will ich dir gewähren.‘ Da sprach das Mädchen ‚ich möchte gern so schön und rein werden wie die Sonne;‘ alsbald war sie weiß und schön wie der Tag. ‚Dann möchte ich einen Geldbeutel haben, der nie leer würde;‘ den gab ihr der liebe Gott auch, sprach aber ‚vergiß das Beste nicht.‘ Sagte sie ‚ich wünsche mir zum dritten das ewige Himmelreich nach meinem Tode.‘ Das ward ihr auch gewährt, und also schied der liebe Gott von ihr.

Als die Stiefmutter mit ihrer Tochter nach Hause kam und sah, daß sie beide kohlschwarz und häßlich waren, die Stieftochter aber weiß und schön, so stieg die Bosheit in ihrem Herzen noch höher, und sie hatte nichts anders im Sinn, als wie sie ihr ein Leid antun könnte. Die Stieftochter aber hatte einen Bruder namens Reginer, den liebte sie sehr und erzählte ihm alles, was geschehen war. Nun sprach Reginer einmal zu ihr ‚liebe Schwester, ich will dich abmalen, damit ich dich beständig vor Augen sehe, denn meine Liebe zu dir ist so groß, daß ich dich immer anblicken möchte.‘ Da antwortete sie ‚aber ich bitte dich, laß niemand das Bild sehen.‘ Er malte nun seine Schwester ab und hing das Bild in seiner Stube auf; er wohnte aber in des Königs Schloß, weil er bei ihm Kutscher war. Alle Tage ging er davor stehen und dankte Gott für das Glück seiner lieben Schwester. Nun war aber gerade dem König, bei dem er diente, seine Gemahlin verstorben, die so schön gewesen war, daß man keine finden konnte, die ihr gliche, und der König war darüber in tiefer Trauer. Die Hofdiener bemerkten aber, daß der Kutscher täglich vor dem schönen Bilde stand, mißgönntens ihm und meldeten es dem König. Da ließ dieser das Bild vor sich bringen, und als er sah, daß es in allem seiner verstorbenen Frau glich, nur noch schöner war, so verliebte er sich sterblich hinein. Er ließ den Kutscher vor sich kommen und fragte, wen das Bild vorstellte. Der Kutscher sagte, es wäre seine Schwester, so entschloß sich der König, keine andere als diese zur Gemahlin zu nehmen, gab ihm Wagen und Pferde und prächtige Goldkleider und schickte ihn fort, seine erwählte Braut abzuholen. Wie Reginer mit der Botschaft ankam, freute sich seine Schwester, allein die Schwarze war eifersüchtig über das Glück, ärgerte sich über alle Maßen und sprac h zu ihrer Mutter ‚was helfen nun all Eure Künste, da Ihr mir ein solches Glück doch nicht verschaffen könnt.‘ ‚Sei still,‘ sagte die Alte, ‚ich will dirs schon zuwenden.‘ Und durch ihre Hexenkünste trübte sie dem Kutscher die Augen, daß er halb blind war, und der Weißen verstopfte sie die Ohren, daß sie halb taub war. Darauf stiegen sie in den Wagen, erst die Braut in den herrlichen königlichen Kleidern, dann die Stiefmutter mit ihrer Tochter, und Reginer saß auf dem Bock, um zu fahren. Wie sie eine Weile unterwegs waren, rief der Kutscher

‚deck dich zu, mein Schwesterlein,
daß Regen dich nicht näßt,
daß Wind dich nicht bestäubt,
daß du fein schön zum König kommst.‘

Die Braut fragte ‚was sagt mein lieber Bruder?‘ ‚Ach,‘ sprach die Alte, ‚er hat gesagt, du solltest dein gülden Kleid ausziehen und es deiner Schwester geben.‘ Da zog sies aus und tats der Schwarzen an, die gab ihr dafür einen schlechten grauen Kittel. So fuhren sie weiter: über ein Weilchen rief der Bruder abermals

‚deck dich zu, mein Schwesterlein‘
daß Regen dich nicht näßt,

daß Wind dich nicht bestäubt,
und du fein schön zum König kommst.‘

Die Braut fragte ‚was sagt mein lieber Bruder?‘ ‚Ach,‘ sprach die Alte, ‚er hat gesagt, du solltest deine güldene Haube abtun und deiner Schwester geben.‘ Da tat sie die Haube ab und tat sie der Schwarzen auf und saß im bloßen Haar. So fuhren sie weiter: wiederum über eine Weile rief der Bruder

‚deck dich zu, mein Schwesterlein,
daß Regen dich nicht näßt
daß Wind dich nicht bestäubt,
und du fein schön zum König kommst.‘

Die Braut fragte ‚was sagt mein lieber Bruder?‘ ‚Ach,‘ sprach die Alte, ‚er hat gesagt, du möchtest einmal aus dem Wagen sehen.‘ Sie fuhren aber gerade auf einer Brücke über ein tiefes Wasser. Wie nun die Braut aufstand und aus dem Wagen sich herausbückte, da stießen sie die beiden hinaus, daß sie mitten ins Wasser stürzte. Als sie versunken war, in demselben Augenblick stieg eine schneeweiße Ente aus dem Wasserspiegel hervor und schwamm den Fluß hinab. Der Bruder hatte gar nichts davon gemerkt und fuhr den Wagen weiter, bis sie an den Hof kamen. Da brachte er dem König die Schwarze als seine Schwester und meinte, sie wärs wirklich, weil es ihm trübe vor den Augen war und doch die Goldkleider schimmern sah. Der König, wie er die grundlose Häßlichkeit an seiner vermeinten Braut erblickte, ward sehr bös und befahl, den Kutscher in eine Grube zu werfen, die voll Ottern und Schlangengezücht war. Die alte Hexe aber wußte den König doch so zu bestricken und durch ihre Künste ihm die Augen zu verblenden, daß er sie und ihre Tochter behielt, ja daß sie ihm ganz leidlich vorkam und er sich wirklich mit ihr verheiratete.

Einmal abends, während die schwarze Braut dem König auf dem Schoße saß, kam eine weiße Ente zum Gossenstein in die Küche geschwommen und sagte zum Küchenjungen

‚Jüngelchen, mach Feuer an‘
daß ich meine Federn wärmen kann.‘

Das tat der Küchenjunge und machte ihr ein Feuer auf dem Herd: da kam die Ente und setzte sich daneben, schüttelte sich und strich sich die Federn mit dem Schnabel zurecht. Während sie so saß und sich wohltat, fragte sie

‚was macht mein Bruder Reginer?‘

Der Küchenjunge antwortete

‚liegt in der Grube gefangen
bei Ottern und bei Schlangen.‘

Fragte sie weiter

‚was macht die schwarze Hexe im Haus?‘

Der Küchenjunge antwortete

‚die sitzt warm
ins Königs Arm.‘

Sagte die Ente


‚daß Gott erbarm!‘

und schwamm den Gossenstein hinaus.

Den folgenden Abend kam sie wieder und tat dieselben Fragen und den dritten Abend noch einmal. Da konnte es der Küchenjunge nicht länger übers Herz bringen, ging zu dem König und entdeckte ihm alles. Der König aber wollte es salbst sehen, ging den andern Abend hin, und wie die Ente den Kopf durch den Gossenstein hereinstreckte, nahm er sein Schwert und hieb ihr den Hals durch, da ward sie auf einmal zum schönsten Mädchen, und glich genau dem Bild, das der Bruder von ihr gemacht hatte. Der König war voll Freuden; und weil sie ganz naß dastand, ließ er köstliche Kleider bringen und ließ sie damit bekleiden. Dann erzählte sie ihm, wie sie durch List und Falschheit wäre betrogen und zuletzt in den Fluß hinabgeworfen worden; und ihre erste Bitte war, daß ihr Bruder aus der Schlangenhöhle herausgeholt würde. Und als der König diese Bitte erfüllt hatte, ging er in die Kammer, wo die alte Hexe saß, und fragte ‚was verdient die, welche das und das tut?‘ und erzählte, was geschehen war. Da war sie so verblendet, daß sie nichts merkte und sprach ‚die verdient, daß man sie nackt auszieht und in ein Faß mit Nägeln legt, und daß man vor das Faß ein Pferd spannt und das Pferd in alle Welt schickt.‘ Das geschah alles an ihr und ihrer schwarzen Tochter. Der König aber heiratete die weiße und schöne Braut und belohnte den treuen Bruder, indem er ihn zu einem reichen und angesehenen Mann machte.

26 Rotkäppchen

Es war einmal ein kleines süßes Mädchen, das hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wusste gar nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Samt, und weil ihm das so wohl stand, und es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen. Eines Tages sprach seine Mutter zu ihm: „Komm, Rotkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bring das der Großmutter hinaus; sie ist krank und schwach und wird sich daran laben. Mach dich auf, bevor es heiß wird, und wenn du hinauskommst, so geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Wege ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas, und die Großmutter hat nichts. Und wenn du in ihre Stube kommst, so vergiss nicht guten Morgen zu sagen und guck nicht erst in allen Ecken herum!“

„Ich will schon alles richtig machen,“ sagte Rotkäppchen zur Mutter, und gab ihr die Hand darauf. Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf. Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Rotkäppchen aber wusste nicht, was das für ein böses Tier war, und fürchtete sich nicht vor ihm. „Guten Tag, Rotkäppchen!“ sprach er. „Schönen Dank, Wolf!“ – „Wo hinaus so früh, Rotkäppchen?“ – „Zur Großmutter.“ – „Was trägst du unter der Schürze?“ – „Kuchen und Wein. Gestern haben wir gebacken, da soll sich die kranke und schwache Großmutter etwas zugut tun und sich damit stärken.“ – „Rotkäppchen, wo wohnt deine Großmutter?“ – „Noch eine gute Viertelstunde weiter im Wald, unter den drei großen Eichbäumen, da steht ihr Haus, unten sind die Nusshecken, das wirst du ja wissen,“ sagte Rotkäppchen. Der Wolf dachte bei sich: Das junge, zarte Ding, das ist ein fetter Bissen, der wird noch besser schmecken als die Alte. Du musst es listig anfangen, damit du beide schnappst. Da ging er ein Weilchen neben Rotkäppchen her, dann sprach er: „Rotkäppchen, sieh einmal die schönen Blumen, die ringsumher stehen. Warum guckst du dich nicht um? Ich glaube, du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen? Du gehst ja für dich hin, als wenn du zur Schule gingst, und ist so lustig haussen in dem Wald.“

Rotkäppchen schlug die Augen auf, und als es sah, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume hin und her tanzten und alles voll schöner Blumen stand, dachte es: Wenn ich der Großmutter einen frischen Strauß mitbringe, der wird ihr auch Freude machen; es ist so früh am Tag, dass ich doch zu rechter Zeit ankomme, lief vom Wege ab in den Wald hinein und suchte Blumen. Und wenn es eine gebrochen hatte, meinte es, weiter hinaus stände eine schönere, und lief danach und geriet immer tiefer in den Wald hinein. Der Wolf aber ging geradewegs nach dem Haus der Großmutter und klopfte an die Türe. „Wer ist draußen?“ – „Rotkäppchen, das bringt Kuchen und Wein, mach auf!“ – „Drück nur auf die Klinke!“ rief die Großmutter, „ich bin zu schwach und kann nicht aufstehen.“ Der Wolf drückte auf die Klinke, die Türe sprang auf und er ging, ohne ein Wort zu sprechen, gerade zum Bett der Großmutter und verschluckte sie. Dann tat er ihre Kleider an, setzte ihre Haube auf, legte sich in ihr Bett und zog die Vorhänge vor.

Rotkäppchen aber, war nach den Blumen herumgelaufen, und als es so viel zusammen hatte, dass es keine mehr tragen konnte, fiel ihm die Großmutter wieder ein, und es machte sich auf den Weg zu ihr. Es wunderte sich, dass die Tür aufstand, und wie es in die Stube trat, so kam es ihm so seltsam darin vor, dass es dachte: Ei, du mein Gott, wie ängstlich wird mir’s heute zumut, und bin sonst so gerne bei der Großmutter! Es rief: „Guten Morgen,“ bekam aber keine Antwort. Darauf ging es zum Bett und zog die Vorhänge zurück. Da lag die Großmutter und hatte die Haube tief ins Gesicht gesetzt und sah so wunderlich aus. „Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren!“ – „Dass ich dich besser hören kann!“ – „Ei, Großmutter, was hast du für große Augen!“ – „Dass ich dich besser sehen kann!“ – „Ei, Großmutter, was hast du für große Hände!“ – „Dass ich dich besser packen kann!“ – „Aber, Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul!“ – „Dass ich dich besser fressen kann!“ Kaum hatte der Wolf das gesagt, so tat er einen Satz aus dem Bette und verschlang das arme Rotkäppchen.

Wie der Wolf seinen Appetit gestillt hatte, legte er sich wieder ins Bett, schlief ein und fing an, überlaut zu schnarchen. Der Jäger ging eben an dem Haus vorbei und dachte: Wie die alte Frau schnarcht! Du musst doch sehen, ob ihr etwas fehlt. Da trat er in die Stube, und wie er vor das Bette kam, so sah er, dass der Wolf darin lag. „Finde ich dich hier, du alter Sünder,“ sagte er, „ich habe dich lange gesucht.“ Nun wollte er seine Büchse anlegen, da fiel ihm ein, der Wolf könnte die Großmutter gefressen haben und sie wäre noch zu retten, schoss nicht, sondern nahm eine Schere und fing an, dem schlafenden Wolf den Bauch aufzuschneiden. Wie er ein paar Schnitte getan hatte, da sah er das rote Käppchen leuchten, und noch ein paar Schnitte, da sprang das Mädchen heraus und rief: „Ach, wie war ich erschrocken, wie war’s so dunkel in dem Wolf seinem Leib!“ Und dann kam die alte Großmutter auch noch lebendig heraus und konnte kaum atmen. Rotkäppchen aber holte geschwind große Steine, damit füllten sie dem Wolf den Leib, und wie er aufwachte, wollte er fortspringen, aber die Steine waren so schwer, dass er gleich niedersank und sich totfiel.

Da waren alle drei vergnügt. Der Jäger zog dem Wolf den Pelz ab und ging damit heim, die Großmutter aß den Kuchen und trank den Wein, den Rotkäppchen gebracht hatte, und erholte sich wieder; Rotkäppchen aber dachte: Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dir’s die Mutter verboten hat.


Es wird auch erzählt, dass einmal, als Rotkäppchen der alten Großmutter wieder Gebackenes brachte, ein anderer Wolf es angesprochen und vom Wege habe ableiten wollen. Rotkäppchen aber hütete sich und ging geradefort seines Wegs und sagte der Großmutter, dass es dem Wolf begegnet wäre, der ihm guten Tag gewünscht, aber so bös aus den Augen geguckt hätte: „Wenn’s nicht auf offener Straße gewesen wäre, er hätte mich gefressen.“ – „Komm,“ sagte die Großmutter, „wir wollen die Türe verschließen, dass er nicht hereinkann.“ Bald danach klopfte der Wolf an und rief: „Mach auf, Großmutter, ich bin das Rotkäppchen, ich bring dir Gebackenes.“ Sie schwiegen aber und machten die Türe nicht auf. Da schlich der Graukopf etlichemal um das Haus, sprang endlich aufs Dach und wollte warten, bis Rotkäppchen abends nach Hause ginge, dann wollte er ihm nachschleichen und wollt’s in der Dunkelheit fressen. Aber die Großmutter merkte, was er im Sinne hatte. Nun stand vor dem Haus ein großer Steintrog, Da sprach sie zu dem Kind: „Nimm den Eimer, Rotkäppchen, gestern hab ich Würste gekocht, da trag das Wasser, worin sie gekocht sind, in den Trog!“ Rotkäppchen trug so lange, bis der große, große Trog ganz voll war. Da stieg der Geruch von den Würsten dem Wolf in die Nase. Er schnupperte und guckte hinab, endlich machte er den Hals so lang, dass er sich nicht mehr halten konnte, und anfing zu rutschen; so rutschte er vom Dach herab, gerade in den großen Trog hinein und ertrank. Rotkäppchen aber ging fröhlich nach Haus, und von nun an tat ihm niemand mehr etwas zuleide.

133 Die zertanzten Schuhe
Es war einmal ein König, der hatte zwölf Töchter, eine immer schöner als die andere. Sie schliefen zusammen in einem Saal, wo ihre Betten nebeneinander standen, und abends wenn sie darin lagen, schloß der König die Tür zu und verriegelte sie. Wenn er aber am Morgen die Türe aufschloß, so sah er, daß ihre Schuhe zertanzt waren, und niemand konnte herausbringen, wie das zugegangen war. Da ließ der König ausrufen, wers könnte ausfindig machen, wo sie in der Nacht tanzten, der sollte sich eine davon zur Frau wählen und nach seinem Tod König sein: wer sich aber meldete und es nach drei Tagen und Nächten nicht herausbrächte, der hätte sein Leben verwirkt. Nicht lange, so meldete sich ein Königssohn und erbot sich, das Wagnis zu unternehmen. Er ward wohl aufgenommen und abends in ein Zimmer geführt, das an den Schlafsaal stieß. Sein Bett war da aufgeschlagen, und er sollte acht haben, wo sie hingingen und tanzten; und damit sie nichts heimlich treiben konnten oder zu einem andern Ort hinausgingen, war auch die Saaltüre offen gelassen. Dem Königssohn fiels aber wie Blei auf die Augen und er schlief ein, und als er am Morgen aufwachte, waren alle zwölfe zum Tanz gewesen, denn ihre Schuhe standen da und hatten Löcher in den Sohlen. Den zweiten und dritten Abend gings nicht anders, und da ward ihm sein Haupt ohne Barmherzigkeit abgeschlagen. Es kamen hernach noch viele und meldeten sich zu dem Wagestück, sie mußten aber alle ihr Leben lassen. Nun trug sichs zu, daß ein armer Soldat, der eine Wunde hatte und nicht mehr dienen konnte, sich auf dem Weg nach der Stadt befand, wo der König wohnte. Da begegnete ihm eine alte Frau, die fragte ihn, wo er hin wollte. ‚Ich weiß selber nicht recht,‘ sprach er, und setzte im Scherz hinzu ‚ich hätte wohl Lust, ausfindig zu machen, wo die Königstöchter ihre Schuhe vertanzen, und danach König zu werden.‘ ‚Das ist so schwer nicht,‘ sagte die Alte, ‚du mußt den Wein nicht trinken, der dir abends gebracht wird, und mußt tun, als wärst du fest eingeschlafen.‘ Darauf gab sie ihm ein Mäntelchen und sprach ‚wenn du das umhängst, so bist du unsichtbar und kannst den zwölfen dann nachschleichen.‘ Wie der Soldat den guten Rat bekommen hatte, wards Ernst bei ihm, so daß er ein Herz faßte, vor den König ging und sich als Freier meldete. Er ward so gut aufgenommen wie die andern auch, und wurden ihm königliche Kleider angetan. Abends zur Schlafenszeit ward er in das Vorzimmer geführt, und als er zu Bette gehen wollte, kam die älteste und brachte ihm einen Becher Wein: aber er hatte sich einen Schwamm unter das Kinn gebunden, ließ den Wein da hineinlaufen, und trank keinen Tropfen. Dann legte er sich nieder, und als er ein Weilchen gelegen hatte, fing er an zu schnarchen wie im tiefsten Schlaf. Das hörten die zwölf Königstöchter, lachten, und die älteste sprach ‚der hätte auch sein Leben sparen können.‘ Danach standen sie auf, öffneten Schränke, Kisten und Kasten, und holten prächtige Kleider heraus: putzten sich vor den Spiegeln, sprangen herum und freuten sich auf den Tanz. Nur die jüngste sagte ‚ich weiß nicht, ihr freut euch, aber mir ist so wunderlich zumut: gewiß widerfährt uns ein Unglück.‘ ‚Du bist eine Schneegans,‘ sagte die älteste, ‚die sich immer fürchtet. Hast du vergessen, wie viel Königssöhne schon umsonst dagewesen sind? dem Soldaten hätt ich nicht einmal brauchen einen Schlaftrunk zu geben, der Lümmel wäre doch nicht aufgewacht.‘ Wie sie alle fertig waren, sahen sie erst nach dem Soldaten, aber der hatte die Augen zugetan, rührte und regte sich nicht, und sie glaubten nun ganz sicher zu sein. Da ging die äIteste an ihr Bett und klopfte daran: alsbald sank es in die Erde, und sie stiegen durch die Öffnung hinab, eine nach de r andern‘ die älteste voran. Der Soldat, der alles mit angesehen hatte, zauderte nicht lange, hing sein Mäntelchen um und stieg hinter der jüngsten mit hinab. Mitten auf der Treppe trat er ihr ein wenig aufs Kleid, da erschrak sie und rief ‚was ist das? wer hält mich am Kleid?‘ ‚Sei nicht so einfältig,‘ sagte die älteste, ‚du bist an einem Haken hängen geblieben.‘ Da gingen sie vollends hinab, und wie sie unten waren, standen sie in einem wunderprächtigen Baumgang, da waren alle Blätter von Silber und schimmerten und glänzten. Der Soldat dachte ‚du willst dir ein Wahrzeichen mitnehmen,‘ und brach einen Zweig davon ab: da fuhr ein gewaltiger Krach aus dem Baume. Die jüngste rief wieder ‚es ist nicht richtig, habt ihr den Knall gehört?‘ Die älteste aber sprach ‚das sind Freudenschüsse, weil wir unsere Prinzen bald erlöst haben.‘ Sie kamen darauf in einem Baumgang, wo alle Blätter von Gold, und endlich in einen dritten, wo sie klarer Demant waren: von beiden brach er einen Zweig ab, wobei es jedesmal krachte, daß die jüngste vor Schrecken zusammenfuhr: aber die älteste blieb dabei, es wären Freudenschüsse. Sie gingen weiter und kamen zu einem großen Wasser, darauf standen zwölf Schifflein, und in jedem Schifflein saß ein schöner Prinz, die hatten auf die zwölfe gewartet, und jeder nahm eine zu sich, der Soldat aber setzte sich mit der jüngsten ein. Da sprach der Prinz ‚ich weiß nicht. das Schiff ist heute viel schwerer, und ich muß aus allen Kräften rudern, wenn ich es fortbringen soll.‘ ‚Wovon sollte das kommen,‘ sprach die jüngste, ‚als vom warmen Wetter, es ist mir auch so heiß zumut.‘ Jenseits des Wassers aber stand ein schönes hellerleuchtetes Schloß, woraus eine lustige Musik erschallte von Pauken und Trompeten. Sie ruderten hinüber, traten ein, und jeder Prinz tanzte mit seiner Liebsten; der Soldat aber tanzte unsichtbar mit, und wenn eine einen Becher mit Wein hielt, so trank er ihn aus, daß er leer war, wenn sie ihn an den Mund brachte; und der jüngsten ward auch angst darüber, aber die älteste brachte sie immer zum Schweigen. Sie tanzten da bis drei Uhr am andern Morgen, wo alle Schuhe durchgetanzt waren und sie aufhören mußten. Die Prinzen fuhren sie über das Wasser wieder zurück, und der Soldat setzte sich diesmal vornen hin zur ältesten. Am Ufer nahmen sie von ihren Prinzen Abschied und versprachen, in der folgenden Nacht wiederzukommen. Als sie an der Treppe waren, lief der Soldat voraus und legte sich in sein Bett, und als die zwölf langsam und müde heraufgetrippelt kamen, schnarchte er schon wieder so laut, daß sies alle hören konnten, und sie sprachen ‚vor dem sind wir sicher.‘ Da taten sie ihre schönen Kleider aus, brachten sie weg, stellten die zertanzten Schuhe unter das Bett und legten sich nieder. Am andern Morgen wollte der Soldat nichts sagen, sondern das wunderliche Wesen noch mit ansehen, und ging die zweite und die dritte Nacht wieder mit. Da war alles wie das erstemal, und sie tanzten jedesmal, bis die Schuhe entzwei waren. Das drittemal aber nahm er zum Wahrzeichen einen Becher mit. Als die Stunde gekommen war, wo er antworten sollte, steckte er die drei Zweige und den Becher zu sich und ging vor den König, die zwölfe aber standen hinter der Türe und horchten, was er sagen würde. Als der König die Frage tat ‚wo haben meine zwölf Töchter ihre Schuhe in der Nacht vertanzt?‘ so antwortete er ‚mit zwölf Prinzen in einem unterirdischen Schloß,‘ berichtete, wie es zugegangen war, und holte die Wahrzeichen hervor. Da ließ der König seine Töchter kommen und fragte sie, ob der Soldat die Wahrheit gesagt hätte, und da sie sahen, daß sie verraten waren und leugnen nichts half, so mußten sie alles eingestehen. Darauf fragte ihn der König, welche er zur Frau haben wollte. E r antwortete ‚ich bin nicht mehr jung, so gebt mir die älteste.‘ Da ward noch am selbigen Tage die Hochzeit gehalten und ihm das Reich nach des Königs Tode versprochen. Aber die Prinzen wurden auf so viel Tage wieder verwünscht, als sie Nächte mit den zwölfen getanzt hatten.

155 Die Brautschau

Es war ein junger Hirt, der wollte gern heiraten und kannte drei Schwestern, davon war eine so schön wie die andere, daß ihm die Wahl schwer wurde und er sich nicht entschließen konnte, einer davon den Vorzug zu geben. Da fragte er seine Mutter um Rat, die sprach: „Lad alle drei ein und setz ihnen Käs vor, und hab acht, wie sie ihn anschneiden.“ Das tat der Jüngling, die erste aber verschlang den Käs mit der Rinde: die zweite schnitt in der Hast die Rinde vom Käs ab, weil sie aber so hastig war, ließ sie noch viel Gutes daran und warf das mit weg: die dritte schälte ordentlich die Rinde ab, nicht zu viel und nicht zu wenig. Der Hirt erzählte das alles seiner Mutter, da sprach sie: „Nimm die dritte zu deiner Frau.“ Das tat er und lebte zufrieden und glücklich mit ihr.

182 a Die Erbsenprobe (nur 1843)
Es war einmal ein König, der hatte einen einzigen Sohn, der wollte sich gern vermählen, und bat seinen Vater um eine Frau. „Dein Wunsch soll erfüllt werden, mein Sohn,“ sagte der König, „aber es will sich nicht schicken daß du eine andere nimmst als eine Prinzessin, und es ist gerade in der Nähe eine zu haben. Indessen will ich es bekannt machen lassen, vielleicht meldet sich eine aus der Ferne.“ Es ging also ein offenes Schreiben aus, und es dauerte nicht lange, so meldeten sich Prinzessinnen genug. Fast jeden Tag kam eine, wenn aber nach ihrer Geburt und Abstammung gefragt wurde, so ergab sichs daß es keine Prinzessin war, und sie mußte unverrichteter Sache wieder abziehen. „Wenn das so fortgeht,“ sagte der Prinz, „so bekomm ich am Ende gar keine Frau.“ „Beruhige dich, mein Söhnchen,“ sagte die Königin, „eh du dichs versiehst, so ist eine da; das Glück steht oft vor der Thüre, man braucht sie nur aufzumachen.“ Es war wirklich so, wie die Königin gesagt hatte.

Bald hernach, an einem stürmischen Abend, als Wind und Regen ans Fenster schlugen, ward heftig an das Tor des königlichen Palastes geklopft. Die Diener öffneten, und ein wunderschönes Mädchen trat herein, das verlangte gleich vor den König geführt zu werden. Der König wunderte sich über den späten Besuch, und fragte sie woher sie käme, wer sie wäre und was sie begehre. „Ich komme aus weiter Ferne,“ antwortete sie, „und bin die Tochter eines mächtigen Königs. Als eure Bekanntmachung mit dem Bildnis eures Sohnes in meines Vaters Reich gelangte, habe ich heftige Liebe zu ihm empfunden und mich gleich auf den Weg gemacht, in der Absicht seine Gemahlin zu werden.“ „Das kommt mir ein wenig bedenklich vor,“ sagte der König, „auch siehst du mir gar nicht aus wie eine Prinzessin. Seit wann reist eine Prinzessin allein ohne alles Gefolge und in so schlechten Kleidern?“ „Das Gefolge hätte mich nur aufgehalten,“ erwiderte sie, „die Farbe an meinen Kleidern ist in der Sonne verschossen, und der Regen hat sie vollends herausgewaschen. Glaubt ihr nicht daß ich eine Prinzessin bin, so sendet nur eine Botschaft an meinen Vater.“ „Das ist mir zu weitläuftig,“ sagte der König, „eine Gesandtschaft kann nicht so schnell reisen, wie du. Die Leute müssen die nöthige Zeit dazu haben; es würden Jahre vergehen, ehe sie wieder zurück kämen. Kannst du nicht auf andere Art beweisen, daß du eine Prinzessin bist, so blüht hier dein Waizen nicht, und du thust besser je eher je lieber dich wieder auf den Heimweg zu machen.“ „Laß sie nur bleiben,“ sagte die Königin, „ich will sie auf die Probe stellen, und will bald wissen ob sie eine Prinzessin ist.“

Die Königin stieg selbst den Thurm hinauf, und ließ in einem prächtigen Gemach ein Bett zurecht machen. Als die Matratze herbeigebracht war, legte sie drei Erbsen darauf, eine oben hin, eine in die Mitte und eine unten hin, dann wurden noch sechs weiche Matratzen darüber gebreitet, Linnentücher und eine Decke von Eiderdunen. Wie alles fertig war, führte sie das Mädchen hinauf in die Schlafkammer. „Nach dem weiten Weg wirst du müde sein, mein Kind,“ sagte sie, „schlaf dich aus: Morgen wollen wir weiter sprechen.“

Kaum war der Tag angebrochen, so stieg die Königin schon den Thurm hinauf in die Kammer. Sie dachte das Mädchen noch in tiefem Schlaf zu finden, aber es war wach. „Wie hast du geschlafen, mein Töchterchen?“ fragte sie. „Erbärmlich,“ antwortete die Prinzessin, „ich habe die ganze Nacht kein Auge zugethan.“ „Warum? mein Kind, war das Bett nicht gut?“ „In einem solchen Bett hab ich mein Lebtag noch nicht gelegen, hart vom Kopf bis zu den Füßen; es war als wenn ich auf lauter Erbsen läge.“ „Ich sehe wohl,“ sagte die Königin, „du bist eine echte Prinzessin. Ich will dir königliche Kleider schicken, Perlen und Edelsteine: schmücke dich wie eine Braut. Wir wollen noch heute die Hochzeit feiern.“

Das Meerhäschen (nur 1857)

Es war einmal eine Königstochter, die hatte in ihrem Schloß hoch unter der Zinne einen Saal mit zwölf Fenstern, die gingen nach allen Himmelsgegenden, und wenn sie hinaufstieg und umherschaute, so konnte sie ihr ganzes Reich übersehen. Aus dem ersten sah sie schon schärfer als andere Menschen, in dem zweiten noch besser, in dem dritten noch deutlicher, und so immer weiter, bis in dem zwölften, wo sie alles sah, was über und unter der Erde war, und ihr nichts verborgen bleiben konnte. Weil sie aber stolz war, sich niemand unterwerfen wollte und die Herrschaft allein behalten, so ließ sie bekanntmachen, es sollte niemand ihr Gemahl werden, der sich nicht so vor ihr verstecken könnte, daß es ihr unmöglich wäre, ihn zu finden. Wer es aber versuche und sie entdecke ihn, so werde ihm das Haupt abgeschlagen und auf einen Pfahl gesteckt. Es standen schon siebenundneunzig Pfähle mit toten Häuptern vor dem Schloß, und in langer Zeit meldete sich niemand. Die Königstochter war vergnügt und dachte: „Ich werde nun für mein Lebtag frei bleiben.“ Da erschienen drei Brüder vor ihr und kündigten ihr an, daß sie ihr Glück versuchen wollten. Der älteste glaubte sicher zu sein, wenn er in ein Kalkloch krieche, aber sie erblickte ihn schon aus dem ersten Fenster, ließ ihn herausziehen und ihm das Haupt abschlagen. Der zweite kroch in den Keller des Schlosses, aber auch diesen erblickte sie aus dem ersten Fenster, und es war um ihn geschehen: sein Haupt kam auf den neunundneunzigsten Pfahl. Da trat der jüngste vor sie hin und bat, sie möchte ihm einen Tag Bedenkzeit geben, auch so gnädig sein, es ihm zweimal zu schenken, wenn sie ihn entdecke: mißlinge es ihm zum drittenmal, so wolle er sich nichts mehr aus seinem Leben machen. Weil er so schön war und so herzlich bat, so sagte sie: „Ja, ich will dir das bewilligen, aber es wird dir nicht glücken.“

Den folgenden Tag sann er lange nach, wie er sich verstecken wollte, aber es war vergeblich. Da ergriff er seine Büchse und ging hinaus auf die Jagd. Er sah einen Raben und nahm ihn aufs Korn; eben wollte er losdrücken, da rief der Rabe: „Schieß nicht, ich will dirs vergelten!“ Er setzte ab, ging weiter und kam an einen See, wo er einen großen Fisch überraschte, der aus der Tiefe herauf an die Oberfläche des Wassers gekommen war. Als er angelegt hatte, rief der Fisch: „Schieß nicht, ich will dirs vergelten!“ Er ließ ihn untertauchen, ging weiter und begegnete einem Fuchs, der hinkte. Er schoß und verfehlte ihn, da rief der Fuchs: „Komm lieber her und zieh mir den Dorn aus dem Fuß.“ Er tat es zwar, wollte aber dann den Fuchs töten und ihm den Balg abziehen. Der Fuchs sprach: „Laß ab, ich will dirs vergelten!“ Der Jüngling ließ ihn laufen, und da es Abend war, kehrte er heim.

Am andern Tag sollte er sich verkriechen, aber wie er sich auch den Kopf darüber zerbrach, er wußte nicht wohin. Er ging in den Wald zu dem Raben und sprach: „Ich habe dich leben lassen, jetzt sage mir, wohin ich mich verkriechen soll, damit mich die Königstochter nicht sieht.“ Der Rabe senkte den Kopf und bedachte sich lange. Endlich schnarrte er: „Ich habs heraus!“ Er holte ein Ei aus seinem Nest, zerlegte es in zwei Teile und schloß den Jüngling hinein: dann machte er es wieder ganz und setzte sich darauf. Als die Königstochter an das erste Fenster trat, konnte sie ihn nicht entdecken, auch nicht in den folgenden, und es fing an ihr bange zu werden, doch im elften erblickte sie ihn. Sie ließ den Raben schießen, das Ei holen und zerbrechen, und der Jüngling mußte herauskommen. Sie sprach: „Einmal ist es dir geschenkt, wenn du es nicht besser machst, so bist du verloren.“

Am folgenden Tag ging er an den See, rief den Fisch herbei und sprach: „Ich habe dich leben lassen, nun sage, wohin soll ich mich verbergen, damit mich die Königstochter nicht sieht.“ Der Fisch besann sich, endlich rief er: „Ich habs heraus! ich will dich in meinem Bauch verschließen.“ Er verschluckte ihn und fuhr hinab auf den Grund des Sees. Die Königstochter blickte durch ihre Fenster, auch im elften sah sie ihn nicht und war bestürzt, doch endlich im zwölften entdeckte sie ihn. Sie ließ den Fisch fangen und töten, und der Jüngling kam zum Vorschein. Es kann sich jeder denken, wie ihm zumut war. Sie sprach: „Zweimal ist dirs geschenkt, aber dein Haupt wird wohl auf den hundertsten Pfahl kommen.“

An dem letzten Tag ging er mit schwerem Herzen aufs Feld und begegnete dem Fuchs. „Du weißt alle Schlupfwinkel zu finden,“ sprach er, „ich habe dich leben lassen, jetzt rat mir, wohin ich mich verstecken soll, damit mich die Königstochter nicht findet.“ – „Ein schweres Stück,“ antwortete der Fuchs und machte ein bedenkliches Gesicht. Endlich rief er: „Ich habs heraus!“ Er ging mit ihm zu einer Quelle, tauchte sich hinein und kam als ein Marktkrämer und Tierhändler heraus. Der Jüngling mußte sich auch in das Wasser tauchen, und ward in ein kleines Meerhäschen verwandelt. Der Kaufmann zog in die Stadt und zeigte das artige Tierchen. Es lief viel Volk zusammen, um es anzusehen. Zuletzt kam auch die Königstochter, und weil sie großen Gefallen daran hatte, kaufte sie es und gab dem Kaufmann viel Geld dafür. Bevor er es ihr hinreichte, sagte er zu ihm: „Wenn die Königstochter ans Fenster geht, so krieche schnell unter ihren Zopf.“ Nun kam die Zeit, wo sie ihn suchen sollte. Sie trat nach der Reihe an die Fenster vom ersten bis zum elften und sah ihn nicht. Als sie ihn auch bei dem zwölften nicht sah, war sie voll Angst und Zorn und schlug es so gewaltig zu, daß das Glas in allen Fenstern in tausend Stücke zersprang und das ganze Schloß erzitterte.

Sie ging zurück und fühlte das Meerhäschen unter ihrem Zopf, da packte sie es, warf es zu Boden und rief: „Fort mir aus den Augen!“ Es lief zum Kaufmann, und beide eilten zur Quelle, wo sie sich untertauchten und ihre wahre Gestalt zurückerhielten. Der Jüngling dankte dem Fuchs und sprach: „Der Rabe und der Fisch sind blitzdumm gegen dich, du weißt die rechten Pfiffe, das muß wahr sein!“

Der Jüngling ging geradezu in das Schloß. Die Königstochter wartete schon auf ihn und fügte sich ihrem Schicksal. Die Hochzeit ward gefeiert, und er war jetzt der König und Herr des ganzen Reichs. Er erzählte ihr niemals, wohin er sich zum drittenmal versteckt und wer ihm geholfen hatte, und so glaubte sie, er habe alles aus eigener Kunst getan und hatte Achtung vor ihm, denn sie dachte bei sich: „Der kann doch mehr als du!“

52. König Drosselbart

Ein König hatte eine Tochter, die war über alle Maßen schön, aber dabei so stolz und übermütig, daß ihr kein Freier gut genug war. Sie wies einen nach dem andern ab, und trieb noch dazu Spott mit ihnen. Einmal ließ der König ein großes Fest anstellen, und ladete dazu aus der Nähe und Ferne die heiratslustigen Männer ein. Sie wurden alle in eine Reihe nach Rang und Stand geordnet; erst kamen die Könige, dann die Herzöge, die Fürsten, Grafen und Freiherrn, zuletzt die Edelleute. Nun ward die Königstochter durch die Reihen geführt, aber an jedem hatte sie etwas auszusetzen. Der eine war ihr zu dick, »das Weinfaß!« sprach sie. Der andere zu lang, »lang und schwank hat keinen Gang.« Der dritte zu kurz, »kurz und dick hat kein Geschick.« Der vierte zu blaß, »der bleiche Tod!« der fünfte zu rot, »der Zinshahn!« der sechste war nicht gerad genug, »grünes Holz, hinterm Ofen getrocknet!« Und so hatte sie an einem jeden etwas auszusetzen, besonders aber machte sie sich über einen guten König lustig, der ganz oben stand und dem das Kinn ein wenig krumm gewachsen war. »Ei,« rief sie und lachte, »der hat ein Kinn, wie die Drossel einen Schnabel;« und seit der Zeit bekam er den Namen Drosselbart. Der alte König aber, als er sah, daß seine Tochter nichts tat als über die Leute spotten, und alle Freier, die da versammelt waren, verschmähte, ward er zornig und schwur, sie sollte den ersten besten Bettler zum Manne nehmen, der vor seine Türe käme. Ein paar Tage darauf hub ein Spielmann an unter dem Fenster zu singen, um damit ein geringes Almosen zu verdienen. Als es der König hörte, sprach er »laßt ihn heraufkommen.« Da trat der Spielmann in seinen schmutzigen verlumpten Kleidern herein, sang vor dem König und seiner Tochter, und bat, als er fertig war, um eine milde Gabe. Der König sprach »dein Gesang hat mir so wohl gefallen, daß ich dir meine Tochter da zur Frau geben will.« Die Königstochter erschrak, aber der König sagte »ich habe den Eid getan, dich dem ersten besten Bettelmann zu geben, den will ich auch halten.« Es half keine Einrede, der Pfarrer ward geholt, und sie mußte sich gleich mit dem Spielmann trauen lassen. Als das geschehen war, sprach der König »nun schickt sichs nicht, daß du als ein Bettelweib noch länger in meinem Schloß bleibst, du kannst nur mit deinem Manne fortziehen.«

Der Bettelmann führte sie an der Hand hinaus, und sie mußte mit ihm zu Fuß fortgehen. Als sie in einen großen Wald kamen, da fragte sie

»ach, wem gehört der schöne Wald?«
»Der gehört dem König Drosselbart;
hättst du’n genommen, so wär er dein.«
»Ich arme Jungfer zart,
ach, hätt ich genommen den König Drosselbart!«

Darauf kamen sie über eine Wiese, da fragte sie wieder

»wem gehört die schöne grüne Wiese?«
»Sie gehört dem König Drosselbart;
hättst du’n genommen, so wär sie dein.«
»Ich arme Jungfer zart,
ach, hätt ich genommen den König Drosselbart!«

Dann kamen sie durch eine große Stadt, da fragte sie wieder

»wem gehört diese schöne große Stadt?«
»Sie gehört dem König Drosselbart;
hättst du’n genommen, so wär sie dein.«
»Ich arme Jungfer zart,
ach, hätt ich genommen den König Drosselbart!«

»Es gefällt mir gar nicht,« sprach der Spielmann, »daß du dir immer einen andern zum Mann wünschest: bin ich dir nicht gut genug?« Endlich kamen sie an ein ganz kleines Häuschen, da sprach sie

»ach, Gott, was ist das Haus so klein!
wem mag das elende winzige Häuschen sein?«

Der Spielmann antwortete »das ist mein und dein Haus, wo wir zusammen wohnen.« Sie mußte sich bücken, damit sie zu der niedrigen Tür hineinkam. »Wo sind die Diener?« sprach die Königstochter. »Was Diener!« antwortete der Bettelmann, »du mußt selber tun, was du willst getan haben. Mach nur gleich Feuer an und stell Wasser auf, daß du mir mein Essen kochst; ich bin ganz müde.« Die Königstochter verstand aber nichts vom Feueranmachen und Kochen, und der Bettelmann mußte selber mit Hand anlegen, daß es noch so leidlich ging. Als sie die schmale Kost verzehrt hatten, legten sie sich zu Bett: aber am Morgen trieb er sie schon ganz früh heraus, weil sie das Haus besorgen sollte. Ein paar Tage lebten sie auf diese Art schlecht und recht, und zehrten ihren Vorrat auf. Da sprach der Mann »Frau, so gehts nicht länger, daß wir hier zehren und nichts verdienen. Du sollst Körbe flechten.« Er ging aus, schnitt Weiden und brachte sie heim: da fing sie an zu flechten, aber die harten Weiden stachen ihr die zarten Hände wund. »Ich sehe, das geht nicht,« sprach der Mann, »spinn lieber, vielleicht kannst du das besser.« Sie setzte sich hin und versuchte zu spinnen, aber der harte Faden schnitt ihr bald in die weichen Finger, daß das Blut daran herunterlief. »Siehst du,« sprach der Mann, »du taugst zu keiner Arbeit, mit dir bin ich schlimm angekommen. Nun will ichs versuchen, und einen Handel mit Töpfen und irdenem Geschirr anfangen: du sollst dich auf den Markt setzen und die Ware feil halten.« »Ach,« dachte sie, »wenn auf den Markt Leute aus meines Vaters Reich kommen, und sehen mich da sitzen und feil halten, wie werden sie mich verspotten!« Aber es half nichts, sie mußte sich fügen, wenn sie nicht Hungers sterben wollten. Das erstemal gings gut, denn die Leute kauften der Frau, weil sie schön war, gern ihre Ware ab, und bezahlten, was sie forderte: ja, viele gaben ihr das Geld, und ließen ihr die Töpfe noch dazu. Nun lebten sie von dem Erworbenen, solange es dauerte, da handelte der Mann wieder eine Menge neues Geschirr ein. Sie setzte sich damit an eine Ecke des Marktes, und stellte es um sich her und hielt feil. Da kam plötzlich ein trunkener Husar dahergejagt, und ritt geradezu in die Töpfe hinein, daß alles in tausend Scherben zersprang. Sie fing an zu weinen und wußte vor Angst nicht, was sie anfangen sollte. »Ach, wie wird mirs ergehen!« rief sie, »was wird mein Mann dazu sagen!« Sie lief heim und erzählte ihm das Unglück. »Wer setzt sich auch an die Ecke des Marktes mit irdenem Geschirr!« sprach der Mann, »laß nur das Weinen, ich sehe wohl, du bist zu keiner ordentlichen Arbeit zu gebrauchen. Da bin ich in unseres Königs Schloß gewesen und habe gefragt, ob sie nicht eine Küchenmagd brauchen könnten, und sie haben mir versprochen, sie wollten dich dazu nehmen; dafür bekommst du freies Essen.«

Nun ward die Königstochter eine Küchenmagd, mußte dem Koch zur Hand gehen und die sauerste Arbeit tun. Sie machte sich in beiden Taschen ein Töpfchen fest, darin brachte sie nach Haus, was ihr von dem Übriggebliebenen zuteil ward, und davon nährten sie sich. Es trug sich zu, daß die Hochzeit des ältesten Königssohnes sollte gefeiert werden, da ging die arme Frau hinauf, stellte sich vor die Saaltüre und wollte zusehen. Als nun die Lichter angezündet waren, und immer einer schöner als der andere hereintrat, und alles voll Pracht und Herrlichkeit war, da dachte sie mit betrübtem Herzen an ihr Schicksal und verwünschte ihren Stolz und Übermut, der sie erniedrigt und in so große Armut gestürzt hatte. Von den köstlichen Speisen, die da ein- und ausgetragen wurden, und von welchen der Geruch zu ihr aufstieg, warfen ihr Diener manchmal ein paar Brocken zu, die tat sie in ihr Töpfchen und wollte es heimtragen. Auf einmal trat der Königssohn herein, war in Samt und Seide gekleidet und hatte goldene Ketten um den Hals. Und als er die schöne Frau in der Türe stehen sah, ergriff er sie bei der Hand und wollte mit ihr tanzen, aber sie weigerte sich und erschrak, denn sie sah, daß es der König Drosselbart war, der um sie gefreit und den sie mit Spott abgewiesen hatte. Ihr Sträuben half nichts, er zog sie in den Saal: da zerriß das Band, an welchem die Taschen hingen, und die Töpfe fielen heraus, daß die Suppe floß und die Brocken umhersprangen. Und wie das die Leute sahen, entstand ein allgemeines Gelächter und Spotten, und sie war so beschämt, daß sie sich lieber tausend Klafter unter die Erde gewünscht hätte. Sie sprang zur Türe hinaus und wollte entfliehen, aber auf der Treppe holte sie ein Mann ein und brachte sie zurück: und wie sie ihn ansah, war es wieder der König Drosselbart. Er sprach ihr freundlich zu »fürchte dich nicht, ich und der Spielmann, der mit dir in dem elenden Häuschen gewohnt hat, sind eins: dir zuliebe habe ich mich so verstellt, und der Husar, der dir die Töpfe entzweigeritten hat, bin ich auch gewesen. Das alles ist geschehen, um deinen stolzen Sinn zu beugen und dich für deinen Hochmut zu strafen, womit du mich verspottet hast.« Da weinte sie bitterlich und sagte »ich habe großes Unrecht gehabt und bin nicht wert, deine Frau zu sein.« Er aber sprach »tröste dich, die bösen Tage sind vorüber, jetzt wollen wir unsere Hochzeit feiern.« Da kamen die Kammerfrauen und taten ihr die prächtigsten Kleider an, und ihr Vater kam und der ganze Hof, und wünschten ihr Glück zu ihrer Vermählung mit dem König Drosselbart, und die rechte Freude fing jetzt erst an. Ich wollte, du und ich, wir wären auch dabei gewesen.

144 Das Eselein

Es lebte einmal ein König und eine Königin, die waren reich und hatten alles, was sie sich wünschten, nur keine Kinder. Darüber klagte sie Tag und Nacht und sprach: „Ich bin wie ein Acker, auf dem nichts wächst.“ Endlich erfüllte Gott ihre Wünsche; als das Kind aber zur Welt kam, sah’s nicht aus wie ein Menschenkind, sondern war ein junges Eselein. Wie die Mutter das erblickte, fing ihr Jammer und Geschrei erst recht an, sie hätte lieber gar kein Kind gehabt als einen Esel und sagte, man sollt ihn ins Wasser werfen, damit ihn die Fische fräßen. Der König aber sprach: „Nein, hat Gott ihn gegeben, soll er auch mein Sohn und Erbe sein, nach meinem Tod auf dem königlichen Thron sitzen und die königliche Krone tragen.“ Also ward das Eselein aufgezogen, nahm zu, und die Ohren wuchsen ihm auch fein hoch und gerad hinauf. Es war aber sonst fröhlicher Art, sprang herum, spielte und hatte besonders seine Lust an der Musik, so daß es zu einem berühmten Spielmann ging und sprach: „Lehre mich deine Kunst, daß ich so gut die Laute schlagen kann als du.“

„Ach, liebes Herrlein,“ antwortete der Spielmann, „das sollt Euch schwerfallen, Eure Finger sind nicht allerdings dazu gemacht und gar zu groß; ich sorge, die Saiten halten’s nicht aus.“ Es half keine Ausrede, das Eselein wollte und mußte die Laute schlagen, war beharrlich und fleißig und lernte es am Ende so gut als sein Meister selber. Einmal ging das junge Herrlein nachdenksam spazieren und kam an einen Brunnen, da schaute es hinein und sah im spiegelhellen Wasser seine Eseleinsgestalt. Darüber war es so betrübt, daß es in die weite Welt ging und nur einen treuen Gesellen mitnahm. Sie zogen auf und ab, zuletzt kamen sie in ein Reich, wo ein alter König herrschte, der nur eine einzige, aber wunderschöne Tochter hatte. Das Eselein sagte: „Hier wollen wir weilen,“ klopfte ans Tor und rief: „Es ist ein Gast haußen, macht auf, damit er eingehen kann.“ Als aber nicht aufgetan ward, setzte er sich hin, nahm seine Laute und schlug sie mit seinen zwei Vorderfüßen aufs lieblichste. Da sperrte der Türhüter gewaltig die Augen auf, lief zum König und sprach: „Da draußen sitzt ein junges Eselein vor dem Tor, das schlägt die Laute so gut als ein gelernter Meister.“

„So laß mir den Musikant hereinkommen,“ sprach der König. Wie aber ein Eselein hereintrat, fing alles an über den Lautenschläger zu lachen. Nun sollte das Eselein unten zu den Knechten gesetzt und gespeist werden, es ward aber unwillig und sprach: „Ich bin kein gemeines Stalleselein, ich bin ein vornehmes.“ Da sagten sie: „Wenn du das bist, so setze dich zu dem Kriegsvolk.“

„Nein,“ sprach es, „ich will beim König sitzen.“ Der König lachte und sprach in gutem Mut: „Ja, es soll so sein, wie du verlangst, Eselein, komm her zu mir.“ Danach fragte er: „Eselein, wie gefällt dir meine Tochter?“

Das Eselein drehte den Kopf nach ihr, schaute sie an, nickte und sprach: „Aus der Maßen wohl, sie ist so schön, wie ich noch keine gesehen habe.“

„Nun, so sollst du auch neben ihr sitzen,“ sagte der König.

„Das ist mir eben recht,“ sprach das Eselein und setzte sich an ihre Seite, aß und trank und wußte sich fein und säuberlich zu betragen. Als das edle Tierlein eine gute Zeit an des Königs Hof geblieben war, dachte es: Was hilft das alles, du mußt wieder heim, ließ den Kopf traurig hängen, trat vor den König und verlangte seinen Abschied. Der König hatte es aber liebgewonnen und sprach: „Eselein, was ist dir? Du schaust ja sauer wie ein Essigkrug; bleib bei mir, ich will dir geben, was du verlangst. Willst du Gold?“

„Nein,“ sagte das Eselein und schüttelte mit dem Kopf.

„Willst du Kostbarkeiten und Schmuck?“

„Nein.“

„Willst du mein halbes Reich?“

„Ach nein.“

Da sprach der König: „Wenn ich nur wüßte, was dich vergnügt machen könnte; willst du meine schöne Tochter zur Frau?“

„Ach ja,“ sagte das Eselein, „die möchte ich wohl haben,“ war auf einmal ganz lustig und guter Dinge, denn das war’s gerade, was es sich gewünscht hatte. Also ward eine große und prächtige Hochzeit gehalten. Abends, wie Braut und Bräutigam in ihr Schlafkämmerlein geführt wurden, wollte der König wissen, ob sich das Eselein auch fein artig und manierlich betrüge, und hieß einem Diener sich dort verstecken. Wie sie nun beide drinnen waren, schob der Bräutigam den Riegel vor die Türe, blickte sich um, und wie er glaubte, daß sie ganz allein wären, da warf er auf einmal seine Eselshaut ab und stand da als ein schöner, königlicher Jüngling.

„Nun siehst du,“ sprach er, „wer ich bin, und siehst auch, daß ich deiner nicht unwert war.“ Da ward die Braut froh, küßte ihn und hatte ihn von Herzen lieb. Als aber der Morgen herankam, sprang er auf, zog seine Tierhaut wieder über, und hätte kein Mensch gedacht, was für einer dahinter steckte. Bald kam auch der alte König gegangen.

„Ei,“ rief er, „ist das Eselein schon munter! Du bist wohl recht traurig,“ sagte er zu seiner Tochter, „daß du keinen ordentlichen Menschen zum Mann bekommen hast?“

„Ach nein, lieber Vater, ich habe ihn so lieb, als wenn er der Allerschönste wäre, und will ihn mein Lebtag behalten.“ Der König wunderte sich, aber der Diener, der sich versteckt hatte, kam und offenbarte ihm alles. Der König sprach: „Das ist nimmermehr wahr.“

„So wacht selber die folgende Nacht, Ihr werdet’s mit eigenen Augen sehen, und wißt Ihr was, Herr König, nehmt ihm die Haut weg und werft sie ins Feuer, so muß er sich wohl in seiner rechten Gestalt zeigen.“

„Dein Rat ist gut,“ sprach der König, und abends, als sie schliefen, schlich er sich hinein, und wie er zum Bett kam, sah er im Mondschein einen stolzen Jüngling da ruhen, und die Haut lag abgestreift auf der Erde. Da nahm er sie weg und ließ draußen ein gewaltiges Feuer anmachen und die Haut hineinwerfen und blieb selber dabei, bis sie ganz zu Asche verbrannt war. Weil er aber sehen wollte, wie sich der Beraubte anstellen würde, blieb er die Nacht über wach und lauschte. Als der Jüngling ausgeschlafen hatte, beim ersten Morgenschein, stand er auf und wollte die Eselshaut anziehen, aber sie war nicht zu finden. Da erschrak er und sprach voll Trauer und Angst: „Nun muß ich sehen, daß ich entfliehe.“ Wie er hinaustrat, stand aber der König da und sprach: „Mein Sohn, wohin so eilig, was hast du im Sinn? Bleib hier, du bist ein so schöner Mann, du sollst nicht wieder von mir. Ich gebe dir jetzt mein Reich halb, und nach meinem Tod bekommst du es ganz.“

„So wünsch ich, daß der gute Anfang auch ein gutes Ende nehme,“ sprach der Jüngling, „ich bleibe bei Euch.“ Da gab ihm der Alte das halbe Reich, und als er nach einem Jahr starb, hatte er das ganze, und nach dem Tode seines Vaters noch eins dazu und lebte in aller Herrlichkeit.

170 Lieb und Leid teilen

Es war einmal ein Schneider, der war ein zänkischer Mensch, und seine Frau, die gut, fleißig und fromm war, konnte es ihm niemals recht machen. Was sie tat, er war unzufrieden, brummte, schalt, raufte und schlug sie. Als die Obrigkeit endlich davon hörte, ließ sie ihn vorfordern und ins Gefängnis setzen, damit er sich bessern sollte. Er saß eine Zeitlang bei Wasser und Brot, dann wurde er wieder freigelassen, mußte aber geloben, seine Frau nicht mehr zu schlagen, sondern friedlich mit ihr zu leben, Lieb und Leid zu teilen, wie sichs unter Eheleuten gebührt. Eine Zeitlang ging es gut, dann aber geriet er wieder in seine alte Weise, war mürrisch und zänkisch. Und weil er sie nicht schlagen durfte, wollte er sie bei den Haaren packen und raufen. Die Frau entwischte ihm und sprang auf den Hof hinaus, er lief aber mit der Elle und Schere hinter ihr her, jagte sie herum und warf ihr die Elle und Schere, und was ihm sonst zur Hand war, nach. Wenn er sie traf, so lachte er, und wenn er sie fehlte, so tobte und wetterte er. Er trieb es so lange, bis die Nachbarn der Frau zu Hilfe kamen. Der Schneider ward wieder vor die Obrigkeit gerufen und an sein Versprechen erinnert. ‚Liebe Herren,‘ antwortete er, ‚ich habe gehalten, was ich gelobt habe, ich habe sie nicht geschlagen, sondern Lieb und Leid mit ihr geteilt.‘ ‚Wie kann das sein,‘ sprach der Richter, ‚da sie abermals so große Klage über Euch führt?‘ ‚Ich habe sie nicht geschlagen, sondern ihr nur, weil sie so wunderlich aussah, die Haare mit der Hand kämmen wollen: sie ist mir aber entwichen und hat mich böslich verlassen. Da bin ich ihr nachgeeilt und habe, damit sie zu ihrer Pflicht zurückkehre, als eine gutgemeinte Erinnerung nachgeworfen, was mir eben zur Hand war. Ich habe auch Lieb und Leid mit ihr geteilt, denn sooft ich sie getroffen habe, ist es mir lieb gewesen und ihr leid: habe ich sie aber gefehlt, so ist es ihr lieb gewesen, mir aber leid.‘ Die Richter waren mit dieser Ant wort nicht zufrieden, sondern ließen ihm seinen verdienten Lohn auszahlen.

Die kluge Bauerntochter
Es war einmal ein armer Bauer, der hatte kein Land, nur ein kleines Häuschen und eine alleinige Tochter, da sprach die Tochter: „Wir sollten den Herrn König um ein Stückchen Rottland bitten.“ Da der König ihre Armut hörte, schenkte er ihnen auch ein Eckchen Rasen, den hackte sie und ihr Vater um, und wollten ein wenig Korn und der Art Frucht darauf säen. Als sie den Acker beinah herum hatten, so fanden sie in der Erde einen Mörsel von purem Gold. „Hör,“ sagte der Vater zu dem Mädchen, „weil unser Herr König ist so gnädig gewesen und hat uns diesen Acker geschenkt, so müssen wir ihm den Mörsel dafür geben.“ Die Tochter aber wollte es nicht bewilligen und sagte: „Vater, wenn wir den Mörsel haben und haben den Stößer nicht, dann müssen wir auch den Stößer herbeischaffen, darum schweigt lieber still.“ Er wollt ihr aber nicht gehorchen, nahm den Mörsel, trug ihn zum Herrn König und sagte, den hätte er gefunden in der Heide, ob er ihn als eine Verehrung annehmen wollte. Der König nahm den Mörsel und fragte, ob er nichts mehr gefunden hätte. „Nein,“ antwortete der Bauer. Da sagte der König, er solle nun auch den Stößer herbeischaffen. Der Bauer sprach, den hätten sie nicht gefunden; aber das half ihm so viel, als hätt ers in den Wind gesagt, er ward ins Gefängnis gesetzt, und sollte so lange da sitzen, bis er den Stößer herbeigeschafft hätte. Die Bedienten mußten ihm täglich Wasser und Brot bringen, was man so in dem Gefängnis kriegt, da hörten sie, wie der Mann als fort schrie: „Ach, hätt ich meiner Tochter gehört! ach, ach, hätt ich meiner Tochter gehört!“ Da gingen die Bedienten zum König und sprachen das, wie der Gefangene als fort schrie: „Ach, hätt ich doch meiner Tochter gehört!“ und wollte nicht essen und nicht trinken. Da befahl er den Bedienten, sie sollten den Gefangenen vor ihn br ingen, und da fragte ihn der Herr König, warum er also fort schrie: „Ach, hätt ich meiner Tochter gehört!“ – „Was hat Eure Tochter denn gesagt?“ – „Ja, sie hat gesprochen, ich sollte den Mörsel nicht bringen, sonst müßt ich auch den Stößer schaffen.“ – „Habt Ihr so eine kluge Tochter, so laßt sie einmal herkommen.“ Also mußte sie vor den König kommen, der fragte sie, ob sie denn so klug wäre, und sagte, er wollte ihr ein Rätsel aufgeben, wenn sie das treffen könnte, dann wollte er sie heiraten. Da sprach sie gleich ja, sie wollts erraten. Da sagte der König: „Komm zu mir, nicht gekleidet, nicht nackend, nicht geritten, nicht gefahren, nicht in dem Weg, nicht außer dem Weg, und wenn du das kannst, will ich dich heiraten.“ Da ging sie hin, und zog sich aus splinternackend, da war sie nicht gekleidet, und nahm ein großes Fischgarn, und setzte sich hinein und wickelte es ganz um sich herum, da war sie nicht nackend: und borgte einen Esel fürs Geld und band dem Esel das Fischgarn an den Schwanz, darin er sie fortschleppen mußte und war das nicht geritten und nicht gefahren: der Esel mußte sie aber in der Fahrgleise schleppen, so daß sie nur mit der großen Zehe auf die Erde kam, und war das nicht in dem Weg und nicht außer dem Wege. Und wie sie so daherkam, sagte der König, sie hätte das Rätsel getroffen, und es wäre alles erfüllt. Da ließ er ihren Vater los aus dem Gefängnis, und nahm sie bei sich als seine Gemahlin und befahl ihr das ganze königliche Gut an.

Nun waren etliche Jahre herum, als der Herr König einmal auf die Parade zog, da trug es sich zu, daß Bauern mit ihren Wagen vor dem Schloß hielten, die hatten Holz verkauft; etliche hatten Ochsen vorgespannt, und etliche Pferde. Da war ein Bauer, der hatte drei Pferde, davon kriegte eins ein junges Füllchen, das lief weg und legte sich mitten zwischen zwei Ochsen, die vor dem Wagen waren. Als nun die Bauern zusammenkamen, fingen sie an sich zu zanken, zu schmeißen und zu lärmen, und der Ochsenbauer wollte das Füllchen behalten und sagte, die Ochsen hättens gehabt: und der andere sagte nein, seine Pferde hättens gehabt, und es wäre sein. Der Zank kam vor den König, und er tat den Ausspruch, wo das Füllen gelegen hätte, da sollt es bleiben; und also bekams der Ochsenbauer, dems doch nicht gehörte. Da ging der andere weg, weinte und lamentierte über sein Füllchen. Nun hatte er gehört, wie daß die Frau Königin so gnädig wäre, weil sie auch von armen Bauersleuten gekommen wäre: ging er zu ihr und bat sie, ob sie ihm nicht helfen könnte, daß er sein Füllchen wiederbekäme. Sagte sie: „Ja, wenn Ihr mir versprecht, daß Ihr mich nicht verraten wollt, so will ichs Euch sagen. Morgen früh, wenn der König auf der Wachtparade ist, so stellt Euch hin mitten in die Straße, wo er vorbeikommen muß, nehmt ein großes Fischgarn und tut, als fischtet Ihr, und fischt also fort und schüttet das Garn aus, als wenn Ihrs voll hättet,“ und sagte ihm auch, was er antworten sollte, wenn er vom König gefragt würde. Also stand der Bauer am andern Tag da und fischte auf einem trockenen Platz. Wie der König vorbeikam und das sah, schickte er seinen Laufer hin, der sollte fragen, was der närrische Mann vorhätte. Da gab er zur Antwort: „Ich fische.“ Fragte der Laufer, wie er fischen könnte, es wäre ja kein Wasser da. Sagte der Bauer: „So gut als zwei Ochsen können ein Füllen kriegen, so gut kann ich auch auf dem trockenen Platz fischen.“ Der Laufer ging hin und brachte dem König die Antwort, da ließ er den Bauer vor sich kommen und sagte ihm, das hätte er nicht von sich, von wem er das hätte: und sollts gleich bekennen. Der Bauer aber wollts nicht tun und sagte immer: Gott bewahr! er hätt es von sich. Sie legten ihn aber auf ein Gebund Stroh und schlugen und drangsalten ihn so lange, bis ers bekannte, daß ers von der Frau Königin hätte. Als der König nach Haus kam, sagte er zu seiner Frau: „Warum bist du so falsch mit mir, ich will dich nicht mehr zur Gemahlin: deine Zeit ist um, geh wieder hin, woher du gekommen bist, in dein Bauernhäuschen.“ Doch erlaubte er ihr eins, sie sollte sich das Liebste und Beste mitnehmen, was sie wüßte, und das sollte ihr Abschied sein. Sie sagte: „Ja, lieber Mann, wenn dus so befiehlst, will ich es auch tun,“ und fiel über ihn her und küßte ihn und sprach, sie wollte Abschied von ihm nehmen. Dann ließ sie einen starken Schlaftrunk kommen, Abschied mit ihm zu trinken: der König tat einen großen Zug, sie aber trank nur ein wenig. Da geriet er bald in einen tiefen Schlaf, und als sie das sah, rief sie einen Bedienten und nahm ein schönes weißes Linnentuch und schlug ihn da hinein, und die Bedienten mußten ihn in einen Wagen vor die Türe tragen, und fuhr sie ihn heim in ihr Häuschen. Da legte sie ihn in ihr Bettchen, und er schlief Tag und Nacht in einem fort, und als er aufwachte, sah er sich um und sagte: „Ach Gott, wo bin ich denn?“ rief seinen Bedienten, aber es war keiner da. Endlich kam seine Frau vors Bett und sagte: „Lieber Herr König, Ihr habt mir befohlen, ich sollte das Liebste und Beste aus dem Schloß mitnehmen, nun hab ich nichts Besseres und Lieberes als dich, da hab ich dich mitgenommen.“ Dem König stiegen die Tränen in die Augen, und er sagte: „Liebe Frau, du sollst mein sein und ich dein,“ und nahm sie wieder mit ins königliche Schloß und ließ sich aufs neue mit ihr vermählen; und werden sie ja wohl noch auf den heutigen Tag leben.

162 Der kluge Knecht

Wie glücklich ist der Herr, und wie wohl steht es mit seinem Hause, wenn er einen klugen Knecht hat, der auf seine Worte zwar hört, aber nicht danach tut und lieber seiner eigenen Weisheit folgt. Ein solcher kluger Hans ward einmal von seinem Herrn ausgeschickt, eine verlorene Kuh zu suchen. Er blieb lange aus, und der Herr dachte ‚der treue Hans, er läßt sich in seinem Dienste doch keine Mühe verdrießen.‘ Als er aber gar nicht wiederkommen wollte, befürchtete der Herr, es möchte ihm etwas zugestoßen sein, machte sich selbst auf und wollte sich nach ihm umsehen. Er mußte lange suchen, endlich erblickte er den Knecht, der im weitem Feld auf- und ablief. ‚Nun, lieber Hans,‘ sagte der Herr, als er ihn eingeholt hatte, ‚hast du die Kuh gefunden, nach der ich dich ausgeschickt habe?, ‚Nein, Herr,‘ antwortete er, ‚die Kuh habe ich nicht gefunden, aber auch nicht gesucht.‘ ‚Was hast du denn gesucht, Hans?‘ ‚Etwas Besseres, und das habe ich auch glücklich gefunden.‘ ‚Was ist das, Hans?, ‚Drei Amseln,‘ antwortete der Knecht. ‚Und wo sind sie?‘ fragte der Herr. ‚Eine sehe ich, die andere höre ich, und die dritte jage ich,‘ antwortete der kluge Knecht.

Nehmt euch daran ein Beispiel, bekümmert euch nicht um euern Herrn und seine Befehle, tut lieber, was euch einfällt, und wozu ihr Lust habt, dann werdet ihr ebenso weise handeln wie der kluge Hans.

164 Der faule Heinz

Heinz war faul, und obgleich er weiter nichts zu tun hatte, als seine Ziege täglich auf die Weide zu treiben, so seufzte er dennoch, wenn er nach vollbrachtem Tagewerk abends nach Hause kam. ‚Es ist in Wahrheit eine schwere Last,‘ sagte er, ‚und ein mühseliges Geschäft, so eine Ziege Jahr aus Jahr ein bis in den späten Herbst ins Feld zu treiben. Und wenn man sich noch dabei hinlegen und schlafen könnte! aber nein, da muß man die Augen aufhaben, damit sie die jungen Bäume nicht beschädigt, durch die Hecke in einen Garten dringt oder gar davonläuft. Wie soll da einer zur Ruhe kommen und seines Lebens froh werden!‘ Er setzte sich, sammelte seine Gedanken und überlegte, wie er seine Schultern von dieser Bürde frei machen könnte. Lange war alles Nachsinnen vergeblich, plötzlich fiels ihm wie Schuppen von den Augen. ‚Ich weiß, was ich tue,‘ rief er aus, ‚ich heirate die dicke Trine, die hat auch eine Ziege und kann meine mit austreiben, so brauche ich mich nicht länger zu quälen.‘

Heinz erhob sich also, setzte seine müden Glieder in Bewegung, ging quer über die Straße, denn weiter war der Weg nicht, wo die Eltern der dicken Trine wohnten, und hielt um ihre arbeitsame und tugendreiche Tochter an. Die Eltern besannen sich nicht lange, ‚gleich und gleich gesellt sich gern,‘ meinten sie und willigten ein. Nun ward die dicke Trine Heinzens Frau und trieb die beiden Ziegen aus. Heinz hatte gute Tage und brauchte sich von keiner andern Arbeit zu erholen als von seiner eigenen Faulheit. Nur dann und wann ging er mit hinaus und sagte ‚es geschieht bloß, damit mir die Ruhe hernach desto besser schmeckt: man verliert sonst alles Gefühl dafür.‘

Aber die dicke Trine war nicht minder faul. ‚Lieber Heinz,‘ sprach sie eines Tages, ‚warum sollen wir uns das Leben ohne Not sauer machen und unsere beste Jugendzeit verkümmern? Ist es nicht besser, wir geben die beiden Ziegen, die jeden Morgen einen mit ihrem Meckern im besten Schlafe stören, unserm Nachbar, und der gibt uns einen Bienenstock dafür? den Bienenstock stellen wir an einen sonnigen Platz hinter das Haus und bekümmern uns weiter nicht darum. Die Bienen brauchen nicht gehütet und nicht ins Feld getrieben zu werden: sie fliegen aus, finden den Weg nach Haus von selbst wieder und sammeln Honig, ohne daß es uns die geringste Mühe macht.‘ ‚Du hast wie eine verständige Frau gesprochen,‘ antwortete Heinz, ‚deinen Vorschlag wollen wir ohne Zaudern ausführen: außerdem schmeckt und nährt der Honig besser als die Ziegenmilch und läßt sich auch länger aufbewahren.‘

Der Nachbar gab für die beiden Ziegen gerne einen Bienenstock. Die Bienen flogen unermüdlich vom frühen Morgen bis zum späten Abend aus und ein, und füllten den Stock mit dem schönsten Honig, so daß Heinz im Herbst einen ganzen Krug voll herausnehmen konnte.

Sie stellten den Krug auf ein Brett, das oben an der Wand in ihrer Schlafkammer befestigt war, und weil sie fürchteten, er könnte ihnen gestohlen werden oder die Mäuse könnten darüber geraten, so holte Trine einen starken Haselstock herbei und legte ihn neben ihr Bett, damit sie ihn, ohne unnötigerweise aufzustehen, mit der Hand erreichen und die ungebetenen Gäste von dem Bette aus verjagen könnte.

Der faule Heinz verließ das Bett nicht gerne vor Mittag: ‚wer früh aufsteht,‘ sprach er, ’sein Gut verzehrt.‘ Eines Morgens, als er so am hellen Tage noch in den Federn lag und von dem langen Schlaf ausruhte, sprach er zu seiner Frau ‚die Weiber lieben die Süßigkeit,‘ und du naschest von dem Honig, es ist besser, ehe er von dir allein ausgegessen wird, daß wir dafür eine Gans mit einem jungen Gänslein erhandeln.‘ ‚Aber nicht eher,‘ erwiderte Trine, ‚als bis wir ein Kind haben, das sie hütet. Soll ich mich etwa mit den jungen Gänsen plagen und meine Kräfte dabei unnötigerweise zusetzen?‘ ‚Meinst du,‘ sagte Heinz, ‚der Junge werde Gänse hüten? heutzutage gehorchen die Kinder nicht mehr: sie tun nach ihrem eigenen Willen, weil sie sich klüger dünken als die Eltern, gerade wie jener Knecht, der die Kuh suchen sollte und drei Amseln nachjagte.‘ ‚O,‘ antwortete Trine, ‚dem soll es schlecht bekommen, wenn er nicht tut, was ich sage. Einen Stock will ich nehmen und mit ungezählten Schlägen ihm die Haut gerben. Siehst du, Heinz,‘ rief sie in ihrem Eifer und faßte den Stock, mit dem sie die Mäuse verjagen wollte, ’siehst du, so will ich auf ihn losschlagen.‘ Sie holte aus, traf aber unglücklicherweise den Honigkrug über dem Bette. Der Krug sprang wider die Wand und fiel in Scherben herab, und der schöne Honig floß auf den Boden. ‚Da liegt nun die Gans mit dem jungen Gänslein,‘ sagte Heinz, ‚und braucht nicht gehütet zu werden. Aber ein Glück ist es, daß mir der Krug nicht auf den Kopf gefallen ist, wir haben alle Ursache, mit unserm Schicksal zufrieden zu sein.‘ Und da er in einer Scherbe noch etwas Honig bemerkte, so langte er danach und sprach ganz vergnügt ‚das Restchen, Frau, wollen wir uns noch schmecken lassen und dann nach dem gehabten Schrecken ein wenig ausruhen, was tuts, wenn wir etwas später als gewöhnlich aufstehen, der Tag ist doch noch lang genug.‘ ‚Ja,‘ antwortete Trine, ‚man kommt immer noch zu rechter Zeit. Weißt du, die Schnecke war einmal zur Hochzeit eingeladen, machte sich auf den Weg, kam aber zur Kindtaufe an. Vor dem Hause stürzte sie noch über den Zaun und sagte ‚eilen tut nicht gut,.‘

168 Die hagere Liese

Ganz anders als der faule Heinz und die dicke Trine, die sich von nichts aus ihrer Ruhe bringen ließen, dachte die hagere Liese. Sie äscherte sich ab von Morgen bis Abend und lud ihrem Mann, dem langen Lenz, so viel Arbeit auf, daß er schwerer zu tragen hatte als ein Esel an drei Säcken.
Es war aber alles umsonst, sie hatten nichts und kamen zu nichts. Eines Abends, als sie im Bette lag und vor Müdigkeit kaum ein Glied regen konnte, ließen sie die Gedanken doch nicht einschlafen. Sie stieß ihren Mann mit dem Ellenbogen in die Seite und sprach ‚hörst du, Lenz, was ich gedache habe? wenn ich einen Gulden fände, und einer mir geschenkt würde, so wollte ich einen dazu borgen, und du solltest mir auch noch einen geben: sobald ich dann die vier Gulden beisammen hätte, so wollte ich eine junge Kuh kaufen.‘ Dem Mann gefiel das recht gut, ‚ich weiß zwar nicht,‘ sprach er, ‚woher ich den Gulden nehmen soll, den du von mir willst geschenkt haben, aber wenn du dennoch das Geld zusammenbringst, und du kannst dafür eine Kuh kaufen, so tust du wohl, wenn du dein Vorhaben ausführst.‘ ‚Ich freue mich,‘ fügte er hinzu, ‚wenn die Kuh ein Kälbchen bringt, so werde ich doch manchmal zu meiner Erquickung einen Trank Milch erhalten.‘ ‚Die Milch ist nicht für dich,‘ sagte die Frau, ‚wir lassen das Kalb saugen, damit es groß und fett wird, und wir es gut verkaufen können.‘ ‚Freilich,‘ antwortete der Mann, ‚aber ein wenig Milch nehmen wir doch, das schadet nichts.‘ ‚Wer hat dich gelehrt mit Kühen umgehen?‘ sprach die Frau, ‚es mag schaden oder nicht, ich will es nicht haben: und wenn du dich auf den Kopf stellst, du kriegst keinen Tropfen Milch. Du langer Lenz, weil du nicht zu ersättigen bist, meinst du, du wolltest verzehren, was ich mit Mühe erwerbe.‘ ‚Frau,‘ sagte der Mann, ’sei still, oder ich hänge dir eine Maultasche an.‘ ‚Was,‘ rief sie, ‚du willst mir drohen, du Nimmersatt, du Strick, du fauler Heinz.‘ Sie wol lte ihm in die Haare fallen, aber der lange Lenz richtete sich auf, packte mit der einen Hand die dürren Arme der hagern Liese zusammen, mit der andern drückte er ihr den Kopf auf das Kissen, ließ sie schimpfen und hielt sie so lange, bis sie vor großer Müdigkeit eingeschlafen war. Ob sie am andern Morgen beim Erwachen fortfuhr zu zanken, oder ob sie ausging, den Gulden zu suchen, den sie finden wollte, das weiß ich nicht.

Die zwölf faulen Knechte.

Zwölf Knechte, die den ganzen Tag nichts gethan hatten, wollten sich am Abend nicht noch anstrengen, sondern legten sich ins Gras und rühmten sich ihrer Faulheit. Der erste sprach „was geht mich eure Faulheit an, ich habe mit meiner eigenen zu thun. Die Sorge für den Leib ist meine Hauptarbeit: ich esse nicht wenig und trinke desto mehr. Wenn ich vier Mahlzeiten gehalten habe, so faste ich eine kurze Zeit bis ich wieder Hunger empfinde, das bekommt mir am besten. Früh aufstehn ist nicht meine Sache, wenn es gegen Mittag geht, so suche ich mir schon einen Ruheplatz aus. Ruft der Herr, so thue ich als hätte ich es nicht gehört, und ruft er zum zweitenmal, so warte ich noch eine Zeitlang bis ich mich erhebe und gehe auch dann recht langsam. So läßt sich das Leben ertragen.“ Der zweite sprach „ich habe ein Pferd zu besorgen, aber ich lasse ihm das Gebiß im Maul, und wenn ich nicht will, so gebe ich ihm kein Futter und sage es habe schon gefressen. Dafür lege ich mich in den Haferkasten und schlafe vier Stunden. Hernach strecke ich wohl einen Fuß heraus und fahre damit dem Pferd ein paarmal über den Leib, so ist es gestriegelt und geputzt; wer wird da viel Umstände machen? Aber der Dienst ist mir doch noch zu beschwerlich.“ Der dritte sprach „wozu sich mit Arbeit plagen? dabei kommt nichts heraus. Ich legte mich in die Sonne und schlief. Es fieng an zu tröpfeln, aber weshalb aufstehen? ich ließ es in Gottes Namen fortregnen. Zuletzt kam ein Platzregen und zwar so heftig, daß er mir die Haare vom Kopf ausriß und wegschwemmte, und ich ein Loch in den Schädel bekam. Ich legte ein Pflaster darauf und damit wars gut. Schaden der Art habe [281] ich schon mehr gehabt.“ Der vierte sprach „soll ich eine Arbeit angreifen, so dämmere ich erst eine Stunde herum, damit ich meine Kräfte spare. Hernach fange ich ganz gemächlich an und frage ob nicht andere da wären, die mir helfen könnten. Die lasse ich dann die Hauptarbeit thun, und sehe eigentlich nur zu: aber das ist mir auch noch zu viel.“ Der fünfte sprach „was will das sagen! denkt euch, ich soll den Mist aus dem Pferdestall fortschaffen und auf den Wagen laden. Ich lasse es langsam angehen, und habe ich etwas auf die Gabel genommen, so hebe ich es nur halb in die Höhe und ruhe erst eine Viertelstunde bis ich es vollends hinauf werfe. Es ist übrig genug, wenn ich des Tags ein Fuder hinaus fahre. Ich habe keine Lust mich todt zu arbeiten.“ Der sechste sprach „schämt euch, ich erschrecke vor keiner Arbeit, aber ich lege mich drei Wochen hin und ziehe nicht einmal meine Kleider aus. Wozu Schnallen an die Schuhe? die können mir immerhin von den Füßen abfallen, es schadet nichts. Will ich eine Treppe ersteigen, so ziehe ich einen Fuß nach dem andern langsam auf die erste Stufe herauf, dann zähle ich die übrigen, damit ich weiß wo ich ruhen muß.“ Der siebente sprach „bei mir geht das nicht: mein Herr sieht auf meine Arbeit, nur ist er den ganzen Tag nicht zu Haus. Doch versäume ich nichts, ich laufe so viel das möglich ist, wenn man schleicht. Soll ich fortkommen, so müßten mich vier stämmige Männer mit allen Kräften fortschieben. Ich kam dahin, wo auf einer Pritsche sechs neben einander lagen und schliefen: ich legte mich zu ihnen und schlief auch. Ich war nicht wieder zu wecken, und wollten sie mich heim haben, so mußten sie mich wegtragen.“ Der achte sprach „ich sehe wohl daß ich allein ein munterer Kerl bin, liegt ein Stein vor mir, so gebe ich mir nicht die Mühe meine Beine aufzuheben und darüber hinweg zu schreiten, ich lege mich auf die Erde nieder, und bin ich naß, voll Koth und Schmutz, so bleibe ich liegen bis mich die Sonne wieder ausgetrocknet [282] hat: höchstens drehe ich mich so, daß sie auf mich scheinen kann.“ Der neunte sprach „das ist was rechts! heute lag das Brot vor mir, aber ich war zu faul danach zu greifen, und wäre fast Hungers gestorben. Auch ein Krug stand dabei, aber so groß und schwer daß ich ihn nicht in die Höhe heben mochte und lieber Durst litt. Mich nur umzudrehen, war mir zu viel, ich blieb den ganzen Tag liegen wie ein Stock.“ Der zehnte sprach „mir hat die Faulheit Schaden gebracht, ein gebrochenes Bein und geschwollene Waden. Unser drei lagen auf einem Fahrweg und ich hatte die Beine ausgestreckt. Da kam jemand mit einem Wagen und die Räder giengen mir darüber. Ich hätte die Beine freilich zurückziehen können, aber ich hörte den Wagen nicht kommen: die Mücken summten mir um die Ohren, krochen mir zu der Nase herein und zu dem Mund wieder heraus; wer will sich die Mühe geben das Geschmeis weg zu jagen.“ Der elfte sprach „gestern habe ich meinen Dienst aufgesagt. Ich hatte keine Lust meinem Herrn die schweren Bücher noch länger herbei zu holen und wieder weg zu tragen: das nahm den ganzen Tag kein Ende. Aber die Wahrheit zu sagen, er gab mir den Abschied und wollte mich auch nicht länger behalten, denn seine Kleider, die ich im Staub liegen ließ, waren von den Motten zerfressen; und das war recht.“ Der zwölfte sprach „heute mußte ich mit dem Wagen über Feld fahren, ich machte mir ein Lager von Stroh darauf und schlief richtig ein. Die Zügel rutschten mir aus der Hand, und als ich erwachte, hatte sich das Pferd beinahe los gerissen, das Geschirr war weg, das Rückenseil, Kummet, Zaum und Gebiß. Es war einer vorbei gekommen, der hatte alles fortgetragen. Dazu war der Wagen in eine Pfütze gerathen und stand fest. Ich ließ ihn stehen und streckte mich wieder aufs Stroh. Der Herr kam endlich selbst und schob den Wagen heraus, und wäre er nicht gekommen, so läge ich nicht hier, sondern dort und schliefe in guter Ruh.“

178 Meister Pfriem

Meister Pfriem war ein kleiner hagerer, aber lebhafter Mann, der keinen Augenblick Ruhe hatte. Sein Gesicht, aus dem nur die aufgestülpte Nase vorragte, war pockennarbig und leichenblaß, sein Haar grau und struppig, seine Augen klein, aber sie blitzten unaufhörlich rechts und links hin. Er bemerkte alles, tadelte alles, wußte alles besser und hatte in allem recht. Ging er auf der Straße, so ruderte er heftig mit beiden Armen, und einmal schlug er einem Mädchen, das Wasser trug, den Eimer so hoch in die Luft, daß er selbst davon begossen ward. ‚Schafskopf,‘ rief er ihr zu, indem er sich schüttelte, ‚konntest du nicht sehen, daß ich hinter dir herkam?‘ Seines Handwerks war er ein Schuster, und wenn er arbeitete, so fuhr er mit dem Draht so gewaltig aus, daß er jedem, der sich nicht weit genug in der Ferne hielt, die Faust in den Leib stieß. Kein Geselle blieb länger als einen Monat bei ihm, denn er hatte an der besten Arbeit immer etwas auszusetzen. Bald waren die Stiche nicht gleich, bald war ein Schuh länger, bald ein Absatz höher als der andere, bald war das Leder nicht hinlänglich geschlagen. ‚Warte,‘ sagte er zu dem Lehrjungen, ‚ich will dir schon zeigen, wie man die Haut weich schlägt,‘ holte den Riemen und gab ihm ein paar Hiebe über den Rücken. Faulenzer nannte er sie alle. Er selber brachte aber doch nicht viel vor sich, weil er keine Viertelstunde ruhig sitzen blieb. War seine Frau frühmorgens aufgestanden und hatte Feuer angezündet, so sprang er aus dem Bett und lief mit bloßen Füßen in die Küche. ‚Wollt ihr mir das Haus anzünden?‘ schrie er, ‚das ist ja ein Feuer, daß man einen Ochsen dabei braten könnte! oder kostet das Holz etwa kein Geld?‘ Standen die Mägde am Waschfaß, lachten und erzählten sich, was sie wußten, so schalt er sie aus ‚da stehen die Gänse und schnattern und vergessen über dem Geschwätz ihre Arbeit. Und wo zu die frische Seife? heillose Verschwendung und obendrein eine schändliche Faulheit: sie wollen die Hände schonen und das Zeug nicht ordentlich reiben.‘ Er sprang fort, stieß aber einen Eimer voll Lauge um, so daß die ganze Küche überschwemmt ward. Richtete man ein neues Haus auf, so lief er ans Fenster und sah zu. ‚Da vermauern sie wieder den roten Sandstein,‘ rief er, ‚der niemals austrocknet; in dem Haus bleibt kein Mensch gesund. Und seht einmal, wie schlecht die Gesellen die Steine aufsetzen. Der Mörtel taugt auch nichts: Kies muß hinein, nicht Sand. Ich erlebe noch, daß den Leuten das Haus über dem Kopf zusammenfällt.‘ Er setzte sich und tat ein paar Stiche, dann sprang er wieder auf, hakte sein Schurzfell los und rief ‚ich will nur hinaus und den Menschen ins Gewissen reden.‘ Er geriet aber an die Zimmerleute. ‚Was ist das?‘ rief er, ‚ihr haut ja nicht nach der Schnur. Meint ihr, die Balken würden gerad stehen? es weicht einmal alles aus den Fugen.‘ Er riß einem Zimmermann die Axt aus der Hand und wollte ihm zeigen, wie er hauen müßte, als aber ein mit Lehm beladener Wagen herangefahren kam, warf er die Axt weg und sprang zu dem Bauer, der nebenher ging. ‚Ihr seid nicht recht bei Trost,‘ rief er, ‚wer spannt junge Pferde vor einen schwer beladenen Wagen? die armen Tiere werden Euch auf dem Platz umfallen.‘ Der Bauer gab ihm keine Antwort, und Pfriem lief vor Ärger in seine Werkstätte zurück. Als er sich wieder zur Arbeit setzen wollte, reichte ihm der Lehrjunge einen Schuh. ‚Was ist das wieder?‘ schrie er ihn an, ‚habe ich euch nicht gesagt, ihr solltet die Schuhe nicht so weit ausschneiden? wer wird einen solchen Schuh kaufen, an dem fast nichts ist als die Sohle? ich verlange, daß meine Befehle unmangelhaft befolgt werden.‘ ‚Meister,‘ antwortete der Lehrjunge, ‚Ihr mögt wohl recht haben, daß der Schuh nichts taugt, aber es ist derselbe, den Ihr zugeschnitten und selbst in Arbeit genommen habt. Als Ihr vorhin aufgesprungen seid, habt Ihr ihn vom Tisch herabgeworfen, und ich habe ihn nur aufgehoben. Euch könnte es aber ein Engel vom Himmel nicht recht machen.‘

Meister Pfriem träumte in einer Nacht, er wäre gestorben und befände sich auf dem Weg nach dem Himmel. Als er anlangte, klopfte er heftig an die Pforte: ‚es wundert mich,‘ sprach er, ‚daß sie nicht einen Ring am Tor haben, man klopft sich die Knöchel wund.‘ Der Apostel Petrus öffnete und wollte sehen, wer so ungestüm Einlaß begehrte. ‚Ach, Ihr seids, Meister Pfriem,‘ sagte er, ‚ich will Euch wohl einlassen, aber ich warne Euch, daß Ihr von Eurer Gewohnheit ablaßt und nichts tadelt, was Ihr im Himmel seht: es könnte Euch übel bekommen.‘ ‚Ihr hättet Euch die Ermahnung sparen können,‘ erwiderte Pfriem, ‚ich weiß schon, was sich ziemt, und hier ist, Gott sei Dank, alles vollkommen und nichts zu tadeln wie auf Erden.‘ Er trat also ein und ging in den weiten Räumen des Himmels auf und ab. Er sah sich um, rechts und links, schüttelte aber zuweilen mit dem Kopf oder brummte etwas vor sich hin. Indem erblickte er zwei Engel, die einen Balken wegtrugen. Es war der Balken, den einer im Auge gehabt hatte, während er nach dem Splitter in den Augen anderer suchte. Sie trugen aber den Balken nicht der Länge nach, sondern quer. ‚Hat man je einen solchen Unverstand gesehen?‘ dachte Meister Pfriem; doch schwieg er und gab sich zufrieden: ‚es ist im Grunde einerlei, wie man den Balken trägt, geradeaus oder quer, wenn man nur damit durchkommt, und wahrhaftig, ich sehe, sie stoßen nirgend an.‘ Bald hernach erblickte er zwei Engel, welche Wasser aus einem Brunnen in ein Faß schöpften, zugleich bemerkte er, daß das Faß durchlöchert war und das Wasser von allen Seiten herauslief. Sie tränkten die Erde mit Regen. ‚Alle Hagel!‘ platzte er heraus, besann sich aber glücklicherweise und dachte ‚vielleicht ists bloßer Zeitvertreib; machts einem Spaß, so kann man dergleichen unnütze Dinge tun, zumal hier im Himmel, wo man, wie ich schon bemerkt habe, doch nur faulenzt.‘ Er ging weiter und sah einen Wagen, der in einem tiefen Loch stecken geblieben war. ‚Kein Wunder,‘ sprach er zu dem Mann, der dabeistand, ‚wer wird so unvernünftig aufladen? was habt Ihr da?‘ ‚Fromme Wünsche,‘ antwortete der Mann, ‚ich konnte damit nicht auf den rechten Weg kommen, aber ich habe den Wagen noch glücklich heraufgeschoben, und hier werden sie mich nicht stecken lassen.‘ Wirklich kam ein Engel und spannte zwei Pferde vor. ‚Ganz gut,‘ meinte Pfriem, ‚aber zwei Pferde bringen den Wagen nicht heraus, viere müssen wenigstens davor.‘ Ein anderer Engel kam und führte noch zwei Pferde herbei, spannte sie aber nicht vorn, sondern hinten an. Das war dem Meister Pfriem zu viel. ‚Tolpatsch,‘ brach er los, ‚was machst du da? hat man je, solange die Welt steht, auf diese Weise einen Wagen herausgezogen? da meinen sie aber in ihrem dünkelhaften Übermut alles besser zu wissen.‘ Er wollte weiterreden, aber einer von den Himmelsbewohnern hatte ihn am Kragen gepackt und schob ihn mit unwiderstehlicher Gewalt hinaus. Unter der Pforte drehte der Meister noch einmal den Kopf nach dem Wagen und sah, wie er von vier Flügelpferden in die Höhe gehoben ward.

In diesem Augenblick erwachte Meister Pfriem. ‚Es geht freilich im Himmel etwas anders her als auf Erden,‘ sprach er zu sich selbst, ‚und da läßt sich manches entschuldigen, aber wer kann geduldig mit ansehen, daß man die Pferde zugleich hinten und vorn anspannt? freilich, sie hatten Flügel, aber wer kann das wissen? Es ist übrigens eine gewaltige Dummheit, Pferden, die vier Beine zum Laufen haben, noch ein paar Flügel anzuheften. Aber ich muß aufstehen, sonst machen sie mir im Haus lauter verkehrtes Zeug. Es ist nur ein Glück, daß ich nicht wirklich gestorben bin.‘

151 Die drei Faulen

Ein König hatte drei Söhne, die waren ihm alle gleich lieb, und er wußte nicht, welchen er zum König nach seinem Tode bestimmen sollte. Als die Zeit kam, daß er sterben wollte, rief er sie vor sein Bett und sprach ‚liebe Kinder, ich habe etwas bei mir bedacht, das will ich euch eröffnen: welcher von euch der faulste ist, der soll nach mir König werden.‘ Da sprach der älteste ‚Vater, so gehört das Reich mir, denn ich bin so faul, wenn ich liege und will schlafen, und es fällt mir ein Tropfen in die Augen, so mag ich sie nicht zutun, damit ich einschlafe.‘ Der zweite sprach ‚Vater, das Reich gehört mir, denn ich bin so faul, wenn ich beim Feuer sitze, mich zu wärmen, so ließ ich mir eher die Fersen verbrennen, eh ich die Beine zurückzöge.‘ Der dritte sprach ‚Vater, das Reich ist mein, denn ich bin so faul, sollt ich aufgehängt werden, und hätte den Strick schon um den Hals, und einer gäbe mir ein scharfes Messer in die Hand, damit ich den Strick zerschneiden dürfte, so ließ ich mich eher aufhenken, ehe ich meine Hand erhübe zum Strick.‘ Wie der Vater das hörte, sprach er ‚du hast es am weitesten gebracht und sollst der König sein.‘

Die kluge Else
Es war ein Mann, der hatte eine Tochter, die hieß die kluge Else. Als sie nun erwachsen war, sprach der Vater: „Wir wollen sie heiraten lassen.“ – „Ja,“ sagte die Mutter, „wenn nur einer käme, der sie haben wollte!“ Endlich kam von weither einer, der hieß Hans und hielt um sie an; er machte aber die Bedingung, daß die kluge Else auch recht gescheit wäre. „O,“ sprach der Vater, „die hat Zwirn im Kopf,“ und die Mutter sagte: „Ach, die sieht den Wind auf der Gasse laufen und hört die Fliegen husten.“ – „Ja,“ sprach der Hans, „wenn sie nicht recht gescheit ist, so nehme ich sie nicht.“ Als sie nun zu Tisch saßen und gegessen hatten, sprach die Mutter: „Else, geh in den Keller und hol Bier!“ Da nahm die kluge Else den Krug von der Wand, ging in den Keller und klappte unterwegs brav mit dem Deckel, damit ihr die Zeit ja nicht lang würde. Als sie unten war, holte sie ein Stühlchen und stellte es vors Faß, damit sie sich nicht zu bücken brauchte und ihrem Rücken etwa nicht wehe täte und unverhofften Schaden nähme. Dann stellte sie die Kanne vor sich und drehte den Hahn auf, und während der Zeit, daß das Bier hineinlief, wollte sie doch ihre Augen nicht müßig lassen, sah oben an die Wand hinauf und erblickte nach vielem Hin- und Herschauen eine Kreuzhacke gerade über sich, welche die Maurer da aus Versehen hatten stecken lassen. Da fing die kluge Else an zu weinen und sprach: „Wenn ich den Hans kriege, und wir kriegen ein Kind, und das ist groß, und wir schicken das Kind in den Keller, daß es hier soll Bier zapfen, so fällt ihm die Kreuzhacke auf den Kopf und schlägt’s tot.“ Da saß sie und weinte und schrie aus Leibeskräften über das bevorstehende Unglück. Die oben warteten auf den Trank, aber die kluge Else kam immer nicht. Da sprach die Frau zur Magd: „Geh doch hinunter in den Keller und sieh, wo die Else bleibt!“ Die Magd ging und fand sie vor dem Fasse sitzend und laut schreiend. „Else, was weinst du?“ fragte die Magd. „Ach,“ antwortete sie, „soll ich nicht weinen? Wenn ich den Hans kriege, und wir kriegen ein Kind, und das ist groß, und soll hier Trinken zapfen, so fällt ihm vielleicht die Kreuzhacke auf den Kopf und schlägt es tot.“ Da sprach die Magd: „Was haben wir für eine kluge Else!“ setzte sich zu ihr und fing auch an, über das Unglück zu weinen. Über eine Weile, als die Magd nicht wiederkam, und die droben durstig nach dem Trank waren, sprach der Mann zum Knecht: „Geh doch hinunter in den Keller und sieh, wo die Else und die Magd bleibt!“ Der Knecht ging hinab, da saß die kluge Else und die Magd, und weinten beide zusammen. Da fragte er: „Was weint ihr denn?“ -„Ach,“ sprach die Else, „soll ich nicht weinen? Wenn ich den Hans kriege, und wir kriegen ein Kind, und das ist groß, und soll hier Trinken zapfen, so fällt ihm die Kreuzhacke auf den Kopf und schlägt’s tot.“ Da sprach der Knecht: „Was haben wir für eine kluge Else!“ setzte sich zu ihr und fing auch an laut zu heulen. Oben warteten sie auf den Knecht, als er aber immer nicht kam, sprach der Mann zur Frau: „Geh doch hinunter in den Keller und sieh, wo die Else bleibt!“ Die Frau ging hinab und fand alle drei in Wehklagen und fragte nach der Ursache; da erzählte ihr die Else auch, daß ihr zukünftiges Kind wohl würde von der Kreuzhacke totgeschlagen werden, wenn es erst groß wäre und Bier zapfen sollte und die Kreuzhacke fiele herab. Da sprach die Mutter gleichfalls: „Ach, was haben wir für eine kluge Else!“ setzte sich hin und weinte mit. Der Mann oben wartete noch ein Weilchen, als aber seine Frau nicht wiederkam und sein Durst immer stärker ward, sprach er: „Ich muß nun selber in den Keller gehn und sehen, wo die Else bleibt.“ Als er aber in den Keller kam und alle da beieinander saßen und weinten und er die Ursache hörte, daß das Kind der Else schuldig wäre, das sie vielleicht einmal zur Welt brächte und von der Kreuzhacke könnte totgeschlagen werden, wenn es gerade zur Zeit, wo sie herabfiele, darunter säße, Bier zu zapfen, da rief er: „Was für eine kluge Else!“ setzte sich und weinte auch mit. Der Bräutigam blieb lange oben allein, da niemand wiederkommen wollte, dachte er: „Sie werden unten auf dich warten, du mußt auch hingehen und sehen, was sie vorhaben.“ Als er hinabkam, saßen da fünfe und schrien und jammerten ganz erbärmlich, einer immer besser als der andere. „Was für ein Unglück ist denn geschehen?“ fragte er. „Ach, lieber Hans,“ sprach die Else, „wenn wir einander heiraten und haben ein Kind, und es ist groß, und wir schicken’s vielleicht hierher, Trinken zu zapfen, da kann ihm ja die Kreuzhacke, die da oben ist stecken geblieben, wenn sie herabfallen sollte, den Kopf zerschlagen, daß es liegen bleibt; sollen wir da nicht weinen?“ – „Nun,“ sprach Hans, „mehr Verstand ist für meinen Haushalt nicht nötig; weil du so eine kluge Else bist, so will ich dich haben,“ packte sie bei der Hand und nahm sie mit hinauf und hielt Hochzeit mit ihr.

Als sie den Hans eine Weile hatte, sprach er: „Frau, ich will ausgehen, arbeiten und uns Geld verdienen, geh du ins Feld, und schneid das Korn, daß wir Brot haben.“ – „Ja, mein lieber Hans, das will ich tun.“ Nachdem der Hans fort war, kochte sie sich einen guten Brei und nahm ihn mit ins Feld. Als sie vor den Acker kam, sprach sie zu sich selbst: „Was tu ich? Schneid ich ehr, oder eß ich ehr? Hei, ich will erst essen.“ Nun aß sie ihren Topf mit Brei aus, und als sie dick satt war, sprach sie wieder: „Was tu ich? Schneid ich ehr, oder schlaf ich ehr? Hei, ich will erst schlafen.“ Da legte sie sich ins Korn und schlief ein. Der Hans war längst zu Haus, aber die Else wollte nicht kommen, da sprach er: „Was hab ich für eine kluge Else, die ist so fleißig, daß sie nicht einmal nach Haus kommt und ißt.“ Als sie aber noch immer ausblieb und es Abend ward, ging der Hans hinaus und wollte sehen, was sie geschnitten hätte. Aber es war nichts geschnitten, sondern sie lag im Korn und schlief. Da eilte Hans geschwind heim und holte ein Vogelgarn mit kleinen Schellen und hängte es um sie herum; und sie schlief noch immer fort. Dann lief er heim, schloß die Haustüre zu und setzte sich auf seinen Stuhl und arbeitete. Endlich, als es schon ganz dunkel war, erwachte die kluge Else, und als sie aufstand, rappelte es um sie herum, und die Schellen klingelten bei jedem Schritte, den sie tat. Da erschrak sie, ward irre, ob sie auch wirklich die kluge Else wäre und sprach: „Bin ich’s oder bin ich’s nicht?“ Sie wußte aber nicht, was sie darauf antworten sollte und stand eine Zeitlang zweifelhaft. Endlich dachte sie: Ich will nach Hause gehen und fragen, ob ich’s bin, oder ob ich’s nicht bin, die werden’s ja wissen. Sie lief vor ihre Haustüre, aber die war verschlossen. Da klopfte sie an das Fenster und rief: „Hans, ist die Else drinnen?“ – „Ja,“ antwortete der Hans, „sie ist drinnen.“ Da erschrak sie und sprach: „Ach Gott, dann bin ich’s nicht,“ und ging vor eine andere Tür; als aber die Leute das Klingeln der Schellen hörten, wollten sie nicht aufmachen, und sie konnte nirgends unterkommen. Da lief sie fort zum Dorf hinaus, und niemand hat sie wieder gesehen.

152a Die heilige Frau Kummerniß. (nur 1815)


Es war einmal eine fromme Jungfrau, die gelobte Gott, nicht zu heirathen, und war wunderschön, so daß es ihr Vater nicht zugeben und sie gern zur Ehe zwingen wollte. In dieser Noth flehte sie Gott an, daß er ihr einen Bart wachsen lassen sollte, welches alsogleich geschah; aber der König ergrimmte und ließ sie an’s Kreutz schlagen, da ward sie eine Heilige.

Nun geschah’ es, daß ein gar armer Spielmann in die Kirche kam, wo ihr Bildniß stand, kniete davor nieder, da freute es die Heilige, daß dieser zuerst ihre Unschuld anerkannte, und das Bild, das mit güldnen Pantoffeln angethan war, ließ einen davon los- und herunterfallen, damit er dem Pilgrim zu gut käme. Der neigte sich dankbar und nahm die Gabe.

Bald aber wurde der Goldschuh in der Kirchen vermißt, und geschah allenthalben Frage, bis er zuletzt bei dem armen Geigerlein gefunden, auch es als ein böser Dieb verdammt und ausgeführt wurde, um zu hangen. Unterwegs aber ging der Zug an dem Gotteshaus vorbei, wo die Bildsäule stand, begehrte der Spielmann hineingehen zu dürfen, daß er zu guter Letzt Abschied nähme mit seinem Geiglein und seiner Gutthäterin die Noth seines Herzens klagen könnte. Dies wurde ihm nun erlaubt. Kaum aber hat er den ersten Strich gethan, siehe, so ließ das Bild auch den andern güldnen Pantoffel herabfallen, und zeigte damit, daß er des Diebstahls unschuldig wäre. Also wurde der Geiger der Eisen und Bande ledig, zog vergnügt seiner Straßen, die heil. Jungfrau aber hieß Kummerniß.

032 Der gescheite Hans
Hansens Mutter fragt: „Wohin, Hans?“

Hans antwortet: „Zur Gretel.“
„Mach’s gut, Hans.“
„Schon gutmachen. Adies, Mutter.“
„Adies, Hans.“
Hans kommt zur Gretel.
„Guten Tag, Gretel.“
„Guten Tag, Hans. Was bringst du Gutes?“
„Bring nichts, gegeben han.“
Gretel schenkt dem Hans eine Nadel.
Hans spricht: „Adies, Gretel.“
„Adies, Hans.“
Hans nimmt die Nadel, steckt sie in einen Heuwagen und geht hinter dem Wagen her nach Haus.
„Guten Abend, Mutter.“
„Guten Abend, Hans. Wo bist du gewesen?“
„Bei der Gretel gewesen.“
„Was hast du ihr gebracht?“
„Nichts gebracht, gegeben hat.“
„Was hat dir Gretel gegeben?“
„Nadel gegeben.“
„Wo hast du die Nadel, Hans?“
„In Heuwagen gesteckt.“
„Das hast du dumm gemacht, Hans, mußtest die Nadel an den Ärmel stecken.“
„Tut nichts, besser machen.“

„Wohin, Hans?“
„Zur Gretel, Mutter.“
„Mach’s gut, Hans.“
„Schon gut machen. Adies, Mutter.“
„Adies, Hans.“
Hans kommt zur Gretel.
„Guten Tag, Gretel.“
„Guten Tag, Hans. Was bringst du Gutes?“
„Bring nichts, gegeben han.“
Gretel schenkt dem Hans ein Messer.
„Adies, Gretel.“
„Adies, Hans.“
Hans nimmt das Messer, steckt’s an den Ärmel und geht nach Haus.
„Guten Abend, Mutter.“
„Guten Abend, Hans. Wo bist du gewesen?“
„Bei der Gretel gewesen.“
„Was hast du ihr gebracht?“
„Nichts gebracht, gegeben hat.“
„Was hat dir Gretel gegeben?“
„Messer gegeben.“
„Wo hast du das Messer, Hans?“
„An den Ärmel gesteckt.“
„Das hast du dumm gemacht, Hans, mußtest das Messer in die Tasche stecken.“
„Tut nichts, besser machen.“

„Wohin, Hans?“
„Zur Gretel, Mutter.“
„Mach’s gut, Hans.“
„Schon gut machen. Adies, Mutter.“
„Adies, Hans.“
Hans kommt zur Gretel.
„Guten Tag, Gretel.“
„Guten Tag, Hans. Was bringst du Gutes?“
„Bring nichts, gegeben han.“
Gretel schenkt dem Hans eine junge Ziege.
„Adies, Gretel.“
„Adies, Hans.“
Hans nimmt die Ziege, bindet ihr die Beine und steckt sie in die Tasche. Wie er nach Haus kommt, ist sie erstickt.
„Guten Abend, Mutter.“
„Guten Abend, Hans. Wo bist du gewesen?“
„Bei der Gretel gewesen.“
„Was hast du ihr gebracht?“
„Nichts gebracht, gegeben hat.“
„Was hat dir Gretel gegeben?“
„Ziege gegeben.“
„Wo hast du die Ziege, Hans?“
„In die Tasche gesteckt.“
„Das hast du dumm gemacht, Hans, mußtest die Ziege an ein Seil binden.“
„Tut nichts, besser machen.“

„Wohin, Hans?“
„Zur Gretel, Mutter.“
„Mach’s gut, Hans.“
„Schon gut machen. Adies, Mutter.“
„Adies, Hans.“
Hans kommt zur Gretel.
„Guten Tag, Gretel.“
„Guten Tag, Hans. Was bringst du Gutes?“
„Bring nichts, gegeben han.“
Gretel schenkt dem Hans ein Stück Speck.
„Adies, Gretel.“
„Adies, Hans.“
Hans nimmt den Speck, bindet ihn an ein Seil und schleift’s hinter sich her. Die Hunde kommen und fressen den Speck ab. Wie er nach Haus kommt, hat er das Seil an der Hand, und ist nichts mehr daran.
„Guten Abend, Mutter.“
„Guten Abend, Hans. Wo bist du gewesen?“
„Bei der Gretel gewesen.“
„Was hast du ihr gebracht?“
„Nichts gebracht, gegeben hat.“
„Was hat dir Gretel gegeben?“
„Stück Speck gegeben.“
„Wo hast du den Speck, Hans?“
„Ans Seil gebunden, heimgeführt, Hunde weggeholt.“
„Das hast du dumm gemacht, Hans, mußtest den Speck auf dem Kopf tragen.“
„Tut nichts, besser machen.“

„Wohin, Hans?“
„Zur Gretel, Mutter.“
„Mach’s gut, Hans.“
„Schon gut machen. Adies, Mutter.“
„Adies, Hans.“
Hans kommt zur Gretel.
„Guten Tag, Gretel.“
„Guten Tag, Hans. Was bringst du Gutes?“
„Bring nichts, gegeben han.“
Gretel schenkt dem Hans ein Kalb.
„Adies, Gretel.“
„Adies, Hans.“
Hans nimmt das Kalb, setzt es auf den Kopf, und das Kalb zertritt ihm das Gesicht.
„Guten Abend, Mutter.“
„Guten Abend, Hans. Wo bist du gewesen?“
„Bei der Gretel gewesen.“
„Was hast du ihr gebracht?“
„Nichts gebracht, gegeben hat.“
„Was hat dir Gretel gegeben?“
„Kalb gegeben.“
„Wo hast du das Kalb, Hans?“
„Auf den Kopf gesetzt, Gesicht zertreten.“
„Das hast du dumm gemacht, Hans, mußtest das Kalb leiten und an die Raufe stellen.“
„Tut nichts, besser machen.“

„Wohin, Hans?“
„Zur Gretel, Mutter.“
„Mach’s gut, Hans.“
„Schon gut machen. Adies, Mutter.“
„Adies, Hans.“
Hans kommt zur Gretel.
„Guten Tag, Gretel.“
„Guten Tag, Hans. Was bringst du Gutes?“
„Bring nichts, gegeben han.“
Gretel sagt zum Hans: „Ich will mit dir gehn.“
Hans nimmt die Gretel, bindet sie an ein Seil, leitet sie, führt sie vor die Raufe und knüpft sie fest. Darauf geht Hans zu seiner Mutter.
„Guten Abend, Mutter.“
„Guten Abend, Hans. Wo bist du gewesen?“
„Bei der Gretel gewesen.“
„Was hast du ihr gebracht?“
„Nichts gebracht.“
„Was hat dir Gretel gegeben?“
„Nichts gegeben, mitgegangen.“
„Wo hast du die Gretel gelassen?“
„Am Seil geleitet, vor die Raufe gebunden; Gras vorgeworfen.“
„Das hast du dumm gemacht, Hans, mußtest ihr freundliche Augen zuwerfen.“
„Tut nichts, besser machen.“
Hans geht in den Stall, sticht allen Kälbern und Schafen die Augen aus und wirft sie der Gretel ins Gesicht. Da wird Gretel böse, reißt sich los und läuft fort und ist Hansens Braut gewesen.

59 Der Frieder und das Katherlieschen

Es war ein Mann, der hieß Frieder, und eine Frau, die hieß Katherlieschen, die hatten einander geheiratet und lebten zusammen als junge Eheleute. Eines Tages sprach der Frieder: „Ich will jetzt zu Acker, Katherlieschen, wann ich wiederkomme, muß etwas Gebratenes auf dem Tisch stehen für den Hunger, und ein frischer Trunk dabei für den Durst.“ – „Geh nur, Friederchen,“ antwortete Katherlieschen. „Geh nur, will dir’s schon recht machen.“ Als nun die Essenszeit herbeirückte, holte sie eine Wurst aus dem Schornstein, tat sie in eine Bratpfanne, legte Butter dazu und stellte sie übers Feuer. Die Wurst fing an zu braten und zu brutzeln, Katherlieschen stand dabei, hielt den Pfannenstiel und hatte so seine Gedanken. Da fiel ihm ein: Bis die Wurst fertig wird, derweil könntest du ja im Keller den Trunk zapfen. Also stellte es den Pfannenstiel fest, nahm eine Kanne, ging hinab in den Keller und zapfte Bier. Das Bier lief in die Kanne und Katherlieschen sah ihm zu. Da fiel ihm ein: Holla, der Hund oben ist nicht beigetan, der könnte die Wurst aus der Pfanne holen, du kämst mir recht. Und im Hui war es die Kellertreppe hinauf. Aber der Spitz hatte die Wurst schon im Maul und schleifte sie auf der Erde mit sich fort. Doch Katherlieschen, nicht faul, setzte ihm nach und jagte ihn ein gut Stück ins Feld; aber der Hund war geschwinder als Katherlieschen, ließ auch die Wurst nicht fahren, sondern über die Acker hinhüpfen. „Hin ist hin!“ sprach Katherlieschen, kehrte um, und weil es sich müde gelaufen hatte, ging es hübsch langsam und kühlte sich ab. Während der Zeit lief das Bier aus dem Faß immerzu, denn Katherlieschen hatte den Hahn nicht umgedreht, und als die Kanne voll und sonst kein Platz da war, so lief es in den Keller und hörte nicht eher auf, als bis das ganze Faß leer war. Katherlieschen sah schon auf der Treppe das Unglück. „Spuk,“ rief es, „was fängst du jetzt an, daß es der Frieder nicht merkt!“ Es besann sich ein Weilchen, endlich fiel ihm ein, von der letzten Kirmes stände noch ein Sack mit schönem Weizenmehl auf dem Boden, das wollte es herabholen und in das Bier streuen. „Ja,“ sprach es, „wer zu rechten Zeit was spart, der hat’s hernach in der Not,“ stieg auf den Boden, trug den Sack herab und warf ihn gerade auf die Kanne voll Bier, daß sie umstürzte und der Trunk des Frieders auch im Keller schwamm. „Es ist ganz recht,“ sprach Katherlieschen, „wo eins ist, muß das andere auch sein,“ und zerstreute das Mehl im ganzen Keller. Als es fertig war, freute es sich gewaltig über seine Arbeit und sagte: „Wie’s so reinlich und sauber hier aussieht!“

Um Mittagszeit kam der Frieder heim. „Nun, Frau, was hast du mir zurechtgemacht?“ – „Ach, Friederchen,“ antwortete sie, „ich wollte dir ja eine Wurst braten, aber während ich das Bier dazu zapfte, hat sie der Hund aus der Pfanne weggeholt, und während ich dem Hund nachsprang, ist das Bier ausgelaufen, und als ich das Bier mit dem Weizenmehl auftrocknen wollte, hab ich die Kanne auch noch umgestoßen; aber sei nur zufrieden, der Keller ist wieder ganz trocken.“ Sprach der Frieder: „Katherlieschen, Katherlieschen, das hättest du nicht tun müssen! Läßt die Wurst wegholen und das Bier aus dem Faß laufen und verschüttest obendrein unser feines Mehl!“ – „Ja, Friederchen, das habe ich nicht gewußt, hättest mir’s sagen müssen.“

Der Mann dachte: Geht das so mit deiner Frau, so mußt du dich besser vorsehen. Nun hatte er eine hübsche Summe Taler zusammengebracht, die wechselte er in Gold ein und sprach zum Katherlieschen: „Siehst du, das sind gelbe Gickelinge, die will ich in einen Topf tun und im Stall unter der Kuhkrippe vergraben, aber daß du mir ja davonbleibst, sonst geht dir’s schlimm.“ Sprach sie: „Nein, Friederchen, will’s gewiß nicht tun!“ Nun, als der Frieder fort war, da kamen Krämer, die irdne Näpfe und Töpfe feil hatten, ins Dorf und fragten bei der jungen Frau an, ob sie nichts zu handeln hätte. „Oh, ihr lieben Leute,“ sprach Katherlieschen, „ich habe kein Geld und kann nichts kaufen; aber könnt ihr gelbe Gickelinge brauchen, so will ich wohl kaufen.“ – „Gelbe Gickelinge, warum nicht? Laßt sie einmal sehen.“ – „So geht in den Stall und grabt unter der Kuhkrippe, so werdet ihr die gelben Gickelinge finden, ich darf nicht dabeigehen.“ Die Spitzbuben gingen hin, gruben und fanden eitel Gold. Da packten sie auf damit, liefen fort und ließen die Töpfe und Näpfe im Hause stehen. Katherlieschen meinte, sie müßte das neue Geschirr auch brauchen; weil nun in der Küche ohnehin kein Mangel daran war, schlug sie jedem Topf den Boden aus und steckte sie insgesamt zum Zierat auf die Zaunpfähle rings ums Haus herum. Wie der Frieder kam und den neuen Zierat sah, sprach er: „Katherlieschen, was hast du gemacht?“ – „Hab’s gekauft, Friederchen, für die gelben Gickelinge, die unter der Kuhkrippe steckten, bin selber nicht dabeigegangen, die Krämer haben sich’s herausgraben müssen.“ – „Ach, Frau,“ sprach der Frieder, „was hast du gemacht! Das waren keine Gickelinge, es war eitel Gold und war all unser Vermögen; das hättest du nicht tun sollen!“ – „Ja, Friederchen,“ antwortete sie, „das hab‘ ich nicht gewußt, hättest mir’s vorher sagen sollen.“

Katherlieschen stand ein Weilchen und besann sich, da sprach sie: „Hör, Friederchen, das Gold wollen wir schon wiederkriegen, wollen hinter den Dieben herlaufen.“ – „So komm,“ sprach der Frieder, „wir wollen’s versuchen; nimm aber Brot und Käse mit, daß wir auf dem Weg was zu essen haben.“ – „Ja, Friederchen, will’s mitnehmen.“ Sie machten sich fort, und weil der Frieder besser zu Fuß war, ging Katherlieschen hinten nach. Ist mein Vorteil, dachte es, wenn wir umkehren, hab ich ja ein Stück voraus. Nun kam es an einen Berg, wo auf beiden Seiten des Wegs tiefe Fahrgleise waren. „Da sehe einer,“ sprach Katherlieschen, „was sie das arme Erdreich zerrissen, geschunden und gedrückt haben! Das wird sein Lebtag nicht wieder heil.“ Und aus mitleidigem Herzen nahm es seine Butter und bestrich die Gleise, rechts und links, damit sie von den Rädern nicht so gedrückt würden. Und wie es sich bei seiner Barmherzigkeit so bückte, rollte ihm ein Käse aus der Tasche den Berg hinab. Sprach das Katherlieschen: „Ich habe den Weg schon einmal heraufgemacht, ich gehe nicht wieder hinab, es mag ein anderer hinlaufen und ihn wiederholen.“ Also nahm es einen andern Käs und rollte ihn hinab. Die Käse aber kamen nicht wieder, da ließ es noch einen dritten hinablaufen und dachte: Vielleicht warten sie auf Gesellschaft und gehen nicht gern allein. Als sie alle drei ausblieben, sprach es: „Ich weiß nicht, was das vorstellen soll! Doch kann’s ja sein, der dritte hat den Weg nicht gefunden und sich verirrt, ich will nur den vierten schicken, daß er sie herbeiruft.“ Der vierte machte es aber nicht besser als der dritte. Da ward das Katherlieschen ärgerlich und warf noch den fünften und sechsten hinab, und das waren die letzten. Eine Zeitlang blieb es stehen und lauerte, daß sie kämen, als sie aber immer nicht kamen, sprach es: „Oh, ihr seid gut nach dem Tod schicken, ihr bleibt fein lange aus! Meint ihr, ich wollt noch länger auf euch warten? Ich gehe meiner Wege, ihr könnt mir nachlaufen, ihr habt jüngere Beine als ich.“ Katherlieschen ging fort und fand den Frieder, der war stehen geblieben und hatte gewartet, weil er gerne was essen wollte. „Nun gib einmal her, was du mitgenommen hast.“ Sie reichte ihm das trockene Brot. „Wo ist Butter und Käse?“ fragte der Mann. „Ach, Friederchen,“ sagte Katherlieschen, „mit der Butter hab ich die Fahrgleise geschmiert, und die Käse werden bald kommen; einer lief mir fort, da hab ich die andern nachgeschickt, sie sollten ihn rufen.“ Sprach der Frieder: „Das hättest du nicht tun sollen, Katherlieschen, die Butter an den Weg schmieren und die Käse den Berg hinabrollen.“ – „Ja, Friederchen, hättest mir’s sagen müssen!“

Da aßen sie das trockene Brot zusammen, und der Frieder sagte: „Katherlieschen, hast du auch unser Haus verwahrt, wie du fortgegangen bist?“ -„Nein, Friederchen, hättest mir’s vorher sagen sollen.“ – „So geh wieder heim und bewahr erst das Haus, ehe wir weitergehen; bring auch etwas anderes zu essen mit, ich will hier auf dich warten.“ Katherlieschen ging zurück und dachte: Friederchen will etwas anderes zu essen, Butter und Käse schmeckt ihm wohl nicht, so will ich ein Tuch voll Hutzeln und einen Krug Essig zum Trunk mitnehmen. Danach riegelte es die Obertüre zu, aber die Untertüre hob es aus, nahm sie auf die Schulter und glaubte, wenn es die Türe in Sicherheit gebracht hätte, müßte das Haus wohl bewahrt sein. Katherlieschen nahm sich Zeit zum Weg und dachte: Desto länger ruht sich Friederchen aus. Als es ihn wieder erreicht hatte, sprach es: „Da, Friederchen, hast du die Haustüre, da kannst du das Haus selber verwahren.“ – „Ach, Gott!“ sprach er, „was hab ich für eine kluge Frau! Hebt die Türe unten aus, daß alles hineinlaufen kann, und riegelt sie oben zu. Jetzt ist’s zu spät, noch einmal nach Haus zu gehen, aber hast du die Türe hierhergebracht, so sollst du sie auch ferner tragen.“ – „Die Türe will ich tragen, Friederchen, aber die Hutzeln und der Essigkrug werden mir zu schwer, ich hänge sie an die Türe, die mag sie tragen.“

Nun gingen sie in den Wald und suchten die Spitzbuben, aber sie fanden sie nicht. Weil’s endlich dunkel ward, stiegen sie auf einen Baum und wollten da übernachten. Kaum aber saßen sie oben, so kamen die Kerle daher, die forttragen, was nicht mitgehen will, und die Dinge finden, ehe sie verloren sind. Sie ließen sich gerade unter dem Baum nieder, auf dem Frieder und Katherlieschen saßen, machten sich ein Feuer an und wollten ihre Beute teilen. Der Frieder stieg von der andern Seite herab und sammelte Steine, stieg damit wieder hinauf und wollte die Diebe totwerfen. Die Steine aber trafen nicht, und die Spitzbuben riefen: „Es ist bald Morgen, der Wind schüttelt die Tannäpfel herunter.“ Katherlieschen hatte die Tür noch immer auf der Schulter, und weil sie so schwer drückte, dachte es, die Hutzeln wären schuld, und sprach: „Friederchen, ich muß die Hutzeln hinabwerfen.“ – „Nein, Katherlieschen, jetzt nicht,“ antwortete er, „sie könnten uns verraten.“ – „Ach, Friederchen, ich muß, sie drücken mich gar zu sehr.“ – „Nun so tu’s, ins Henkers Namen!“ Da rollten die Hutzeln zwischen den Ästen herab, und die Kerle unten sprachen: „Die Vögel misten.“ Eine Weile danach, weil die Türe noch immer drückte, sprach Katherlieschen: „Ach, Friederchen, ich muß den Essig ausschütten.“ – „Nein, Katherlieschen, das darfst du nicht, es könnte uns verraten.“ – „Ach, Friederchen, ich muß, es drückt mich gar zu sehr.“ – „Nun so tu’s, ins Henkers Namen!“ Da schüttete es den Essig aus, daß es die Kerle bespritzte. Sie sprachen untereinander: „Der Tau tröpfelt schon herunter.“ Endlich dachte Katherlieschen: Sollte es wohl die Türe sein, was mich so drückt? und sprach: „Friederchen, ich muß die Türe hinabwerfen.“ – „Nein, Katherlieschen, jetzt nicht, sie könnte uns verraten.“ – „Ach, Friederchen, ich muß, sie drückt mich gar zu sehr.“ – „Nein, Katherlieschen, halt sie ja fest!“ – „Ach, Friederchen, ich laß sie fallen.“ – „Ei,“ antwortete Frieder ärgerlich, „so laß sie fallen ins Teufels Namen!“ Da fiel sie herunter mit starkem Gepolter, und die Kerle unten riefen: „Der Teufel kommt vom Baum herab,“ rissen aus und ließen alles im Stich. Frühmorgens, wie die zwei herunterkamen, fanden sie all ihr Gold wieder und trugen’s heim.

Als sie wieder zu Haus waren, sprach der Frieder: „Katherlieschen, nun mußt du aber auch fleißig sein und arbeiten.“ – „Ja, Friederchen, will’s schon tun, will ins Feld gehen, Frucht schneiden.“ Als Katherlieschen im Feld war, sprach’s mit sich selber: „Eß ich, ehe ich schneid, oder schlaf ich, ehe ich schneid? Hei, ich will ehr essen!“ Da aß Katherlieschen und ward überm Essen schläfrig und fing an zu schneiden und schnitt halb träumend alle seine Kleider entzwei: Schürze, Rock und Hemd. Wie Katherlieschen nach langem Schlaf wieder erwachte, stand es halb nackig da und sprach zu sich selber: „Bin ich’s oder bin ich’s nicht? Ach, ich bin’s nicht!“ Unterdessen ward’s Nacht, da lief Katherlieschen ins Dorf hinein, klopfte an ihres Mannes Fenster und rief: „Friederchen!“ – „Was ist denn?“ – „Möcht gern wissen, ob Katherlieschen drinnen ist.“ – „Ja, ja,“ antwortete der Frieder, „es wird wohl drinnen liegen und schlafen.“ Sprach sie: „Gut, dann bin ich gewiß schon zu Haus,“ und lief fort.

Draußen fand Katherlieschen Spitzbuben, die wollten stehlen. Da ging es zu ihnen und sprach: „Ich will euch helfen stehlen.“ Die Spitzbuben meinten, es wüßte die Gelegenheit des Orts und waren’s zufrieden. Katherlieschen ging vor die Häuser und rief: „Leute, habt ihr was? Wir wollen stehlen.“ Dachten die Spitzbuben: Das wird gut und wünschten, sie wären Katherlieschen wieder los. Da sprachen sie zu ihm: „Vorm Dorfe hat der Pfarrer Rüben auf dem Feld, geh hin und rupf uns Rüben!“ Katherlieschen ging hin aufs Land und fing an zu rupfen, war aber so faul und hob sich nicht in die Höhe. Da kam ein Mann vorbei, sah’s und stand still und dachte, das wäre der Teufel, der so in den Rüben wühlte. Lief fort ins Dorf zum Pfarrer und sprach: „Herr Pfarrer, in Eurem Rübenland ist der Teufel und rupft!“ – „Ach Gott,“ antwortete der Pfarrer, „ich habe einen lahmen Fuß, ich kann nicht hinaus und ihn wegbannen.“ Sprach der Mann: „So will ich Euch hockeln,“ und hockelte ihn hinaus. Und als sie auf das Land kamen, machte sich das Katherlieschen auf und reckte sich in die Höhe. „Ach, der Teufel!“ rief der Pfarrer, und beide eilten fort, und der Pfarrer konnte vor großer Angst mit seinem lahmen Fuß gerader laufen als der Mann, der ihn gehockt hatte, mit seinen gesunden Beinen.

131 Die schöne Katrinelje und Pif Paf Poltrie

‚Guten Tag, Vater Hollenthe.‘ ‚Großen Dank, Pif Paf Poltrie.‘ ‚Könnt ich wohl Eure Tochter kriegen?, ‚O ja, wenns die Mutter Malcho (Melk-Kuh), der Bruder Hohenstolz, die Schwester Käsetraut und die schöne Katrinelje will, so kanns geschehen.‘

‚Wo ist dann die Mutter Malcho?‘

‚Sie ist im Stall und melkt die Kuh.‘

‚Guten Tag, Mutter Malcho.‘ ‚Großen Dank, Pif Paf Poltrie.‘ ‚Könnt ich wohl Eure Tochter kriegen?, ‚O ja, wenns der Vater Hollenthe, der Bruder Hohenstolz, die Schwester Käsetraut und die schöne Katrinelje will, so kanns geschehen.‘

‚Wo ist dann der Bruder Hohenstolz?‘

‚Er ist in der Kammer und hackt das Holz.‘

‚Guten Tag, Bruder Hohenstolz.‘ ‚Großen Dank, Pif Paf Poltrie.‘ ‚Könnt ich wohl Eure Schwester kriegen?‘ ‚O ja, wenns der Vater Hollenthe, die Mutter Malcho, die Schwester Käsetraut und die schöne Katrinelje will, so kanns geschehen.‘

‚Wo ist dann die Schwester Käsetraut?‘

‚Sie ist im Garten und schneidet das Kraut.‘

‚Guten Tag, Schwester Käsetraut.‘ ‚Großen Dank, Pif Paf Poltrie.‘ ‚Könnt ich wohl Eure Schwester kriegen?‘ ‚O ja, wenns der Vater Hollenthe, die Mutter Malcho, der Bruder Hohenstolz und die schöne Katrinelje will, so kanns geschehen.‘

‚Wo ist dann die schöne Katrinelje?,

‚Sie ist in der Kammer und zählt ihre Pfennige.‘

‚Guten Tag, schöne Katrinelje.‘ ‚Großen Dank, Pif Paf Poltrie.‘ ‚Willst du wohl mein Schatz sein?‘ ‚O ja, wenns der Vater Hollenthe, die Mutter Malcho, der Bruder Hohenstolz, die Schwester Käsetraut will, so kanns geschehen.‘

‚Schön Katrinelje, wieviel hast du an Brautschatz?, ‚Vierzehn Pfennige bares Geld, drittehalb Groschen Schuld, ein halb Pfund Hutzeln, eine Handvoll Prutzeln, eine Handvoll Wurzelen,

un so der watt:

is dat nig en guden Brutschatt?

‚ Pif Paf Poltrie, was kannst du für ein Handwerk? bist du ein Schneider?‘ ‚Noch viel besser.‘ ‚Ein Schuster?, ‚Noch viel besser.‘ ‚Ein Ackersmann?‘ ‚Noch viel besser.‘ ‚Ein Schreiner?‘ ‚Noch viel besser.‘ ‚Ein Schmied?‘ ‚Noch viel besser.‘ ‚Ein Müller?‘ ‚Noch viel besser.‘ ‚Vielleicht ein Besenbinder?‘ ‚Ja, das bin ich: ist das nicht ein schönes Handwerk?‘

77 Das kluge Gretel

Es war eine Köchin, die hieß Gretel, die trug Schuhe mit roten Absätzen, und wenn sie damit ausging, so drehte sie sich hin und her, war ganz fröhlich und dachte ‚du bist doch ein schönes Mädel.‘ Und wenn sie nach Hause kam, so trank sie aus Fröhlichkeit einen Schluck Wein, und weil der Wein auch Lust zum Essen macht, so versuchte sie das Beste, was sie kochte, so lang, bis sie satt war, und sprach ‚die Köchin muß wissen, wies Essen schmeckt.‘

Es trug sich zu, daß der Herr einmal zu ihr sagte ‚Gretel, heut abend kommt ein Gast, richte mir zwei Hühner fein wohl zu.‘ ‚Wills schon machen, Herr,‘ antwortete Gretel. Nun stachs die Hühner ab, brühte sie, rupfte sie, steckte sie an den Spieß, und brachte sie, wies gegen Abend ging, zum Feuer, damit sie braten sollten. Die Hühner fingen an braun und gar zu werden, aber der Gast war noch nicht gekommen. Da rief Gretel dem Herrn ‚kommt der Gast nicht, so muß ich die Hühner vom Feuer tun, ist aber Jammer und Schade, wenn sie nicht bald gegessen werden, wo sie am besten im Saft sind.‘ Sprach der Herr ’so will ich nur selbst laufen und den Gast holen.‘ Als der Herr den Rücken gekehrt hatte, legte Gretel den Spieß mit den Hühnern beiseite und dachte ’so lange da beim Feuer stehen macht schwitzen und durstig, wer weiß, wann die kommen! derweil spring ich in den Keller und tue einen Schluck.‘ Lief hinab, setzte einen Krug an, sprach ‚Gott gesegnes dir, Gretel,‘ und tat einen guten Zug. ‚Der Wein hängt aneinander,‘ sprachs weiter, ‚und ist nicht gut abbrechen,‘ und tat noch einen ernsthaften Zug. Nun ging es und stellte die Hühner wieder übers Feuer, strich sie mit Butter und trieb den Spieß lustig herum. Weil aber der Braten so gut roch, dachte Gretel ‚es könnte etwas fehlen, versucht muß er werden!‘ schleckte mit dem Finger und sprach ‚ei, was sind die Hühner so gut! ist ja Sünd und Schand, daß man sie nicht gleich ißt!‘ Lief zum Fenster, ob der Herr mit dem Gast noch nicht käm, aber es sah niemand: stellte sich wieder zu den Hühnern, dachte ‚der eine Flügel verbrennt, besser ists, ich eß ihn weg.‘ Also schnitt es ihn ab und aß ihn auf, und er schmeckte ihm, und wie es damit fertig war, dachte es ‚der andere muß auch herab, sonst merkt der Herr, daß etwas fehlt.‘ Wie die zwei Flügel verzehrt waren, ging es wieder und schaute nach dem Herrn und sah ihn nicht. ‚Wer weiß,‘ fiel ihm ein, ’sie kommen wohl gar nicht und sind wo eingekehrt.‘ Da sprachs ‚hei, Gretel, sei guter Dinge, das eine ist doch angegriffen, tu noch einen frischen Trunk und iß es vollends auf, wenns all ist, hast du Ruhe: warum soll die gute Gottesgabe umkommen?‘ Also lief es noch einmal in den Keller, tat einen ehrbaren Trunk, und aß das eine Huhn in aller Freudigkeit auf. Wie das eine Huhn hinunter war und der Herr noch immer nicht kam, sah Gretel das andere an und sprach ‚wo das eine ist, muß das andere auch sein, die zwei gehören zusammen: was dem einen recht ist, das ist dem andern billig; ich glaube, wenn ich noch einen Trunk tue, so sollte mirs nicht schaden.‘ Also tat es noch einen herzhaften Trunk, und ließ das zweite Huhn wieder zum andern laufen.
Wie es so im besten Essen war, kam der Herr dahergegangen und rief ‚eil dich, Gretel, der Gast kommt gleich nach.‘ ‚Ja, Herr, wills schon zurichten,‘ antwortete Gretel. Der Herr sah indessen, ob der Tisch wohl gedeckt war, nahm das große Messer, womit er die Hühner zerschneiden wollte, und wetzte es auf dem Gang. Indem kam der Gast, klopfte sittig und höflich an der Haustüre. Gretl lief und schaute, wer da war, und als es den Gast sah, hielt es den Finger an den Mund und sprach ’still! still! macht geschwind, daß Ihr wieder fortkommt, wenn Euch mein Herr erwischt, so seid Ihr unglücklich; er hat Euch zwar zum Nachtessen eingeladen, aber er hat nichts anders im Sinn, als Euch die beiden Ohren abzuschneiden. Hört nur, wie er das Messer dazu wetzt.‘ Der Gast hörte das Wetzen und eilte, was er konnte, die Stiegen wieder hinab. Gretel war nicht faul, lief schreiend zu dem Herrn und rief ‚da habt Ihr einen schönen Gast eingeladen!‘ ‚Ei, warum, Gretel? was meinst du damit?‘ ‚Ja,‘ sagte es, ‚der hat mir beide Hühner, die ich eben auftragen wollte, von der Schüssel genommen und ist damit fortgelaufen.‘ ‚Das ist feine Weise!‘ sprach der Herr, und ward ihm leid um die schönen Hühner, ‚wenn er mir dann wenigstens das eine gelassen hätte, damit mir was zu essen geblieben wäre.‘ Er rief ihm nach, er sollte bleiben, aber der Gast tat, als hörte er es nicht. Da lief er hinter ihm her, das Messer noch immer in der Hand, und schrie ’nur eins! nur eins!‘ und meinte, der Gast sollte ihm nur ein Huhn lassen und nicht alle beide nehmen: der Gast aber meinte nicht anders, als er sollte eins von seinen Ohren hergeben, und lief, als wenn Feuer unter ihm brennte, damit er sie beide heim brächte.

84 Hans heiratet
Es war einmal ein junger Bauer, der hieß Hans, dem wollte sein Vetter gern eine reiche Frau werben. Da setzte er den Hans hinter den Ofen und ließ ihn gut einheizen. Dann holte er einen Topf Milch und eine gute Menge Weißbrot, gab ihm einen neugemünzten glänzenden Heller in die Hand und sprach ‚Hans, den Heller da halt fest, und das Weißbrot, das brocke in die Milch, und bleib da sitzen, und geh mir nicht von der Stelle bis ich wiederkomme.‘ ‚Ja,‘ sprach der Hans, ‚das will ich alles ausrichten.‘ Nun zog der Werber ein paar alte verplackte Hosen an, ging ins andere Dorf zu einer reichen Bauerntochter und sprach ‚wollt Ihr nicht meinen Vetter Hans heiraten? Ihr kriegt einen wackern und gescheiten Mann, der Euch gefallen wird.‘ Fragte der geizige Vater ‚wie siehts aus mit seinem Vermögen? hat er auch was einzubrocken?‘ ‚Lieber Freund,‘ antwortete der Werber, ‚mein junger Vetter sitzt warm, hat einen guten schönen Pfennig in der Hand, und hat wohl einzubrocken. Er sollte auch nicht weniger Placken (wie man die Güter nannte) zählen als ich,‘ und schlug sich dabei auf seine geplackte Hose. ‚Wollt Ihr Euch die Mühe nehmen, mit mir hinzugehen, soll Euch zur Stunde gezeigt werden, daß alles so ist, wie ich sage.‘ Da wollte der Geizhals die gute Gelegenheit nicht fahren lassen und sprach ‚wenn dem so ist, so habe ich weiter nichts gegen die Heirat.‘ Nun ward die Hochzeit an dem bestimmten Tag gefeiert, und als die junge Frau ins Feld gehen und die Güter des Bräutigams sehen wollte, zog Hans erst sein sonntägliches Kleid aus und seinen verplackten Kittel an und sprach ‚ich könnte mir das gute Kleid verunehren.‘ Da gingen sie zusammen ins Feld, und wo sich auf dem Weg der Weinstock abzeichnete, oder Äcker und Wiesen abgeteilt waren, deutete Hans mit dem Finger und schlug dann an einen großen oder kleinen Placken seines Kittels und sprach ‚der Placken ist mein und jener auch, mein Schatz, schauet nur danach,‘ und wollte damit sag en, die Frau sollte nicht in das weite Feld gaffen, sondern auf sein Kleid schauen, das wäre sein eigen.

‚Bist du auch auf der Hochzeit gewesen?, ‚Jawohl bin ich darauf gewesen, und in vollem Staat. Mein Kopfputz war von Schnee, da kam die Sonne, und er ist mir abgeschmolzen; mein Kleid war von Spinneweb, da kam ich durch Dornen, die rissen mir es ab; meine Pantoffel waren von Glas, da stieß ich an einen Stein, da sagten sie klink! und sprangen entzwei.‘

140 Das Hausgesinde
„Wo willst du hin?“ – „Nach Walpe.“ – „Ich nach Walpe, du nach Walpe; ’samm’n, ’samm’n gehn wir dann.“
„Hast du auch einen Mann? Wie heißt dein Mann?“ – „Cham.“ – „Mein Mann Cham, dein Mann Cham: ich nach Walpe, du nach Walpe; ’samm’n, ’samm’n gehn wir dann.““Hast du auch ein Kind? Wie heißt dein Kind?“ – „Grind.“ – „Mein Kind Grind, dein Kind Grind; mein Mann Cham, dein Mann Cham; ich nach Walpe, du nach Walpe; ’samm’n, ’samm’n gehn wir dann.“
„Hast du auch eine Wiege? Wie heißt deine Wiege?“ – „Hippodeige.“ -„Meine Wiege Hippodeige, deine Wiege Hippodeige; mein Kind Grind, dein Kind Grind; mein Mann Cham, dein Mann Cham; ich nach Walpe, du nach Walpe; ’samm’n, ’samm’n gehn wir dann.“
„Hast du auch einen Knecht? Wie heißt dein Knecht?“ – „Machmirsrecht.“ – Mein Knecht Machmirsrecht, dein Knecht Machmirsrecht; meine Wiege Hippodeige, deine Wiege Hippodeige; mein Kind Grind, dein Kind Grind; mein Mann Cham, dein Mann Cham; ich nach Walpe, du nach Walpe; ’samm’n, ’samm’n gehn wir dann.“

114 Vom klugen Schneiderlein

Es war einmal eine Prinzessin gewaltig stolz; kam ein Freier, so gab sie ihm etwas zu raten auf, und wenn er’s nicht erraten konnte, so ward er mit Spott fortgeschickt. Sie ließ auch bekanntmachen, wer ihr Rätsel löste, sollte sich mit ihr vermählen, und möchte kommen, wer da wollte. Endlich fanden sich auch drei Schneider zusammen; davon meinten die zwei ältesten, sie hätten so manchen feinen Stich getan und hätten’s getroffen, da könnt’s ihnen nicht fehlen, sie müßten’s auch hier treffen. Der dritte war ein kleiner, unnützer Springinsfeld, der nicht einmal sein Handwerk verstand, aber meinte, er müßte dabei Glück haben; denn woher sollt’s ihm sonst kommen. Da sprachen die zwei andern zu ihm: „Bleib nur zu Haus, du wirst mit deinem bißchen Verstande nicht weit kommen!“ Das Schneiderlein ließ sich aber nicht irremachen und sagte, es hätten einmal seinen Kopf darauf gesetzt und wollte sich schon helfen, und ging dahin, als wäre die ganze Welt sein. 
Da meldeten sich alle drei bei der Prinzessin und sagten, sie sollte ihnen ihre Rätsel vorlegen; es wären die rechten Leute angekommen, die hätten einen feinen Verstand, daß man ihn wohl in eine Nadel fädeln könnte. Da sprach die Prinzessin: „Ich habe zweierlei Haar auf dem Kopf, von was für Farben ist das?“ – „Wenn’s weiter nichts ist,“ sagte der erste, „es wird schwarz und weiß sein wie Tuch, das man Kümmel und Salz nennt.“ Die Prinzessin sprach: „Falsch geraten, antworte der zweite!“ Da sagte der zweite: „Ist’s nicht schwarz und weiß, so ist’s braun und rot, wie meines Herrn Vaters Bratenrock.“ – „Falsch geraten,“ sagte die Prinzessin, „antworte der dritte, dem seh ich’s an, der weiß es sicherlich.“ Da trat das Schneiderlein keck hervor und sprach: „Die Prinzessin hat ein silbernes und ein goldenes Haar auf dem Kopf, und das sind die zweierlei Farben.“ Wie die Prinzessin das hörte, ward sie blaß und wäre vor Schrecken beinah hingefallen, denn das Schneiderlein hatte es getroffen, und sie hatte fest geglaubt, das würde kein Mensch auf der Welt herausbringen. Als ihr das Herz wieder kam, sprach sie: „Damit hast du mich noch nicht gewonnen; du mußt noch eins tun. Unten im Stall liegt ein Bär, bei dem sollst du die Nacht zubringen; wenn ich dann morgen aufstehe und du bist noch lebendig, so sollst du mich heiraten.“ Sie dachte aber, damit wollte sie das Schneiderlein loswerden, denn der Bär hatte noch keinen Menschen lebendig gelassen, der ihm unter die Tatzen gekommen war. Das Schneiderlein ließ sich nicht abschrecken, war ganz vergnügt und sprach: „Frisch gewagt ist halb gewonnen.“

Als nun der Abend kam, ward mein Schneiderlein hinunter zum Bären gebracht. Der Bär wollte auch gleich auf den kleinen Kerl los und ihm mit seiner Tatze einen guten Willkommen geben. „Sachte, sachte,“ sprach das Schneiderlein, „ich will dich schon zur Ruhe bringen.“ Da holte es ganz gemächlich, als hätt es keine Sorgen, welsche Nüsse aus der Tasche, biß sie auf und aß die Kerne. Wie der Bär das sah, kriegte er Lust und wollte auch Nüsse haben. Das Schneiderlein griff in die Tasche und reichte ihm eine Handvoll; es waren aber keine Nüsse, sondern Wackersteine. Der Bär steckte sie ins Maul, konnte aber nichts aufbringen, er mochte beißen, wie er wollte. Ei, dachte er, was bist du für ein dummer Klotz! kannst nicht einmal die Nüsse aufbeißen, und sprach zum Schneiderlein: „Mein, beiß mir die Nüsse auf!“ – „Da siehst du, was du für ein Kerl bist,“ sprach das Schneiderlein, „hast so ein großes Maul und kannst die kleine Nuß nicht aufbeißen.“ Da nahm es die Steine, war hurtig, steckte dafür eine Nuß in den Mund und knack! war sie entzwei. „Ich muß das Ding noch einmal probieren,“ sprach der Bär, „wenn ich’s so ansehe, ich mein, ich müßt’s auch können.“ Da gab ihm das Schneiderlein abermals Wackersteine, und der Bär arbeitete und biß aus allen Leibeskräften hinein. Aber du glaubst auch nicht, daß er sie aufgebracht hat. Wie das vorbei war, holte das Schneiderlein eine Violine unter dem Rock hervor und spielte sich ein Stückchen darauf. Als der Bär die Musik vernahm, konnte er es nicht lassen und fing an zu tanzen, und als er ein Weilchen getanzt hatte, gefiel ihm das Ding so wohl, daß er zum Schneiderlein sprach: „Hör, ist das Geigen schwer?“ – „Kinderleicht, siehst du, mit der Linken leg ich die Finger auf, und mit der Rechten streich ich mit dem Bogen drauf los, da geht’s lustig, hopsasa, vivallalera!“ – „So geigen,“ sprach der Bär, „das möcht ich auch verstehen, damit ich tanzen könnte, so oft ich Lust hätte. Was meinst du dazu? Willst du mir Unterricht darin geben?“ – „Von Herzen gern,“ sagte das Schneiderlein, „wenn du Geschick dazu hast. Aber weis einmal deine Tatzen her, die sind gewaltig lang, ich muß dir die Nägel ein wenig abschneiden.“ Da ward ein Schraubstock herbeigeholt, und der Bär legte seine Tatzen darauf; das Schneiderlein aber schraubte sie fest und sprach: „Nun warte, bis ich mit der Schere komme!“ ließ den Bären brummen, soviel er wollte, legte sich in die Ecke auf ein Bund Stroh und schlief ein.

Die Prinzessin, als sie am Abend den Bären so gewaltig brummen hörte, glaubte nicht anders, als er brummte vor Freuden und hätte dem Schneider den Garaus gemacht. Am Morgen stand sie ganz unbesorgt und vergnügt auf; wie sie aber nach dem Stall guckt, so steht das Schneiderlein ganz munter davor und ist gesund wie ein Fisch im Wasser. Da konnte sie nun kein Wort mehr dagegen sagen, weil sie’s öffentlich versprochen hatte, und der König ließ einen Wagen kommen, darin mußte sie mit dem Schneiderlein zur Kirche fahren, und sollte sie da vermählt werden. Wie sie eingestiegen waren, gingen die beiden anderen Schneider, die ein falsches Herz hatten und ihm sein Glück nicht gönnten, in den Stall und schraubten den Bären los. Der Bär in voller Wut rannte hinter dem Wagen her. Die Prinzessin hörte ihn schnauben und brummen. Es ward ihr angst, und sie rief: „Ach, der Bär ist hinter uns und will dich holen!“ Das Schneiderlein war fix, stellte sich auf den Kopf, streckte die Beine zum Fenster hinaus und rief: „Siehst du den Schraubstock? Wann du nicht gehst, so sollst du wieder hinein.“ Wie der Bär das sah, drehte er um und lief fort. Mein Schneiderlein fuhr da ruhig in die Kirche, und die Prinzessin ward ihm an die Hand getraut, und er lebte mit ihr vergnügt wie eine Heidlerche. Wer’s nicht glaubt, bezahlt einen Taler.

Von dem Schneider, der bald reich wurde.

Ein armer Schneider ging einmal zur Winterszeit über das Feld, und wollte seinen Bruder besuchen. Unterwegs fand er eine erfrorne Droßel, sprach zu sich selber: „was größer ist als eine Laus, das nimmt der Schneider mit nach Haus!“ hob also die Droßel auf, und steckte sie zu sich. Wie er an seines Bruders Haus kam, guckte er erst zum Fenster hinein, ob sie auch zu Haus wären, da sah er einen dicken Pfaffen bei der Frau Schwägerin sitzen vor einem Tisch, auf dem stand ein Braten und eine Flasche Wein; indem klopfte es an die Hausthüre, und der Mann wollte herein, da sah er, wie die Frau den Pfaffen geschwind in einen Kasten schließt, den Braten in den Ofen stellt, und den Wein ins Bett schob. Nunmehr ging der Schneider selbst ins Haus, und bewillkommte seinen Bruder und seine Schwägerin, setzte sich aber auf den Kasten nieder, darin der Pfaff steckte. Der Mann sprach: „Frau, ich bin hungrig, hast du nichts zu essen?“ – „Nein, es tut mir leid, es ist aber heute gar nichts im Haus.“ – Der Schneider aber zog seine erfrorene Droßel heraus, da sprach sein Bruder: „mein, was tust du mit der gefrorenen Droßel?“ – „Ei! die ist viel Geld wert, die kann wahr sagen!“ – „Nun so laß sie einmal wahrsagen.“ – Der Schneider hielt sie ans Ohr und sprach: „die Droßel sagt: es stünde eine Schüssel voll Braten im Ofen.“ – Der Mann ging hin und fand den Braten: „was sagt die Droßel weiter?“ – „Im Bett stecke eine Flasche Wein.“ Der fand auch den Wein: „ei, die Droßel mögt ich haben, die verkauf mir doch.“ – „Du kannst sie kriegen, wenn du mir den Kasten gibst, worauf ich sitze.“ Der Mann wollte gleich, die Frau aber sagte: „nein, das geht nicht, der Kasten ist mir gar zu lieb, den geb ich nicht weg;“ der Mann aber sprach: „stell dich doch nicht so dumm, was nützt dir so ein alter Kasten;“ gab damit dem Bruder den Kasten für den Vogel.

Der Schneider nahm den Kasten auf einen Schubkarren, und fuhr ihn fort: unterwegs sprach er: „ich nehm den Kasten und werf ihn ins Wasser, ich nehm den Kasten und werf ihn ins Wasser!“ Endlich regte sich der Pfaff inwendig und sagte: „ihr wißt viel was in dem Kasten ist, laßt mich heraus, ich will euch 50 Thaler geben.“ – „Ja, dafür will ich es schon tun,“ ließ ihn heraus, und ging mit dem Gelde heim. Die Leute wunderten sich, wo er das viele Geld her habe, er aber sprach: „ich will euch sagen, die Felle stehen in so hohem Preis, da hab ich meine alte Kuh geschlachtet und fürs Fell so viel gelöst.“ Die Leute im Dorf wollten auch davon profitieren, waren her und schnitten allen ihren Ochsen, Kühen und Schafen die Hälse ab, und trugen die Felle in die Stadt, wofür sie aber blutwenig lösten, weil ihrer so viel auf einmal feilgeboten wurden. Da ärgerten sich die Bauern über den Schaden, und warfen dem Schneider Dreck und ander schlechtes Zeug vor seine Tür. Der aber tat alles in seinen Kasten, ging damit in die Stadt in einen Gasthof, und bat den Wirt, ob er ihm nicht den Kasten, worin die größten Kostbarkeiten wären, eine Zeit lang verwahren wolle, bei ihm wären sie nicht sicher? Der Wirth sagte recht gern, und nahm den Kasten zu sich, einige Zeit darnach kam der Schneider, forderte ihn wieder zurück und machte ihn auf, um zu sehen, ob noch alles darin wäre. Wie er nun aber voll Dreck ist, so tobte er abscheulich, beschimpfte den Wirt und drohte ihn zu verklagen, so daß der Wirt, welcher Aufsehen scheute, und für seinen Credit fürchtete, ihm gern hundert Taler gab. Die Bauern ärgerten sich wieder, daß dem Schneider alles zum Profit ausschlug, was sie ihm Leides antaten, nahmen den Kasten, steckten ihn mit Gewalt hinein, setzten ihn aufs Wasser, und ließen ihn fortfließen. Der Schneider schwieg eine Weile still, bis er eine Ecke fortgeflossen war, dann rief er überlaut: „nein, ich tus nicht! und ich tus nicht! und wenn’s die ganze Welt haben wollte.“ Das Geschrei hörte ein Schäfer und fragte: „was willst du denn nicht tun?“ – „Ei, sagte der Schneider, da ist ein König, der hat die närrische Grille und besteht drauf, daß, wer in diesem Kasten den Strom hinuntergeschwommen kommt, seine einzige schöne Tochter heiraten soll, aber ich hab’ einmal meinen Kopf drauf gesetzt, und tus nicht, und wenn’s die ganze Welt haben wollt.“ – „Hört einmal, geht das nicht, daß sich ein anderer in den Kasten setzt und die Königstochter kriegt?“ – „O ja, das geht auch.“ – „So will ich mich an eure Stelle hineinsetzen.“ Da stieg der Schneider aus, der Schäfer ein; der Schneider machte den Kasten noch zu, und der Schäfer ging bald unter. Der Schneider aber nahm die ganze Herde des Schäfers und trieb sie heim.

Die Bauern aber wunderten sich, wie das zugegangen, daß er wieder käme, und obendrein die vielen Schafe hätte. Der Schneider sagte: „ich war untergesunken, tief, tief! da fand ich auf dem Grund die ganze Herde, und nahm sie mit heraus.“ Die Bauern wollten sich da auch Schafe holen, und gingen mit einander hinaus ans Wasser; den Tag war der Himmel ganz blau mit kleinen weißen Wolken, da riefen sie: „wir sehen schon die Lämmer unten auf dem Grund!“ Da sprach der Schulz: „ich will erst hinunter, und mich umsehen, und wenn es gut ist, will ich euch rufen.“ Wie er nun hineinstürzte, rauschte es in dem Wasser: plump! da meinten sie er riefe ihnen zu: kommt! und stürzten sich alle hinter ihm drein. Da gehörte das ganze Dorf dem Schneider.

175 Der Mond

Vorzeiten gab es ein Land, wo die Nacht immer dunkel und der Himmel wie ein schwarzes Tuch darüber gebreitet war, denn es ging dort niemals der Mond auf, und kein Stern blinkte in der Finsternis. Bei Erschaffung der Welt hatte das nächtliche Licht ausgereicht. Aus diesem Land gingen einmal vier Bursche auf die Wanderschaft und gelangten in ein anderes Reich, wo abends, wenn die Sonne hinter den Bergen verschwunden war, auf einem Eichbaum eine leuchtende Kugel stand, die weit und breit ein sanftes Licht ausgoß. Man konnte dabei alles wohl sehen und unterscheiden, wenn es auch nicht so glänzend wie die Sonne war. Die Wanderer standen still und fragten einen Bauer, der da mit seinem Wagen vorbeifuhr, was das für ein Licht sei. ‚Das ist der Mond,‘ antwortete dieser, ‚unser Schultheiß hat ihn für drei Taler gekauft und an den Eichbaum befestigt. Er muß täglich Öl aufgießen und ihn rein erhalten, damit er immer hell brennt. Dafür erhält er von uns wöchentlich einen Taler.‘

Als der Bauer weggefahren war, sagte der eine von ihnen ‚diese Lampe könnten wir brauchen, wir haben daheim einen Eichbaum, der ebenso groß ist, daran können wir sie hängen. Was für eine Freude, wenn wir nachts nicht in der Finsternis herumtappen!‘ ‚Wißt ihr was?‘ sprach der zweite, ‚wir wollen Wagen und Pferde holen und den Mond wegführen. Sie können sich hier einen andern kaufen.‘ ‚Ich kann gut klettern,‘ sprach der dritte, ‚ich will ihn schon herunterholen!‘ Der vierte brachte einen Wagen mit Pferden herbei, und der dritte stieg den Baum hinauf, bohrte ein Loch in den Mond, zog ein Seil hindurch und ließ ihn herab. Als die glänzende Kugel auf dem Wagen lag, deckten sie ein Tuch darüber, damit niemand den Raub bemerken sollte. Sie brachten ihn glücklich in ihr Land und stellten ihn auf eine hohe Eiche. Alte und Junge freuten sich, als die neue Lampe ihr Licht über alle Felder leuchten ließ und Stuben und Kammern damit erfüllte. Die Zwerge kamen aus den Felsenhöhlen hervor, und die kleinen Wichtelmänner tanzten in ihren roten Röckchen auf den Wiesen den Ringeltanz.

Die vier versorgten den Mond mit Öl, putzten den Docht und erhielten wöchentlich ihren Taler. Aber sie wurden alte Greise, und als der eine erkrankte und seinen Tod voraussah, verordnete er, daß der vierte Teil des Mondes als sein Eigentum ihm mit in das Grab sollte gegeben werden. Als er gestorben war, stieg der Schultheiß auf den Baum und schnitt mit der Heckenschere ein Viertel ab, das in den Sarg gelegt ward. Das Licht des Mondes nahm ab, aber noch nicht merklich. Als der zweite starb, ward ihm das zweite Viertel mitgegeben, und das Licht minderte sich. Noch schwächer ward es nach dem Tod des dritten, der gleichfalls seinen Teil mitnahm, und als der vierte ins Grab kam, trat die alte Finsternis wieder ein. Wenn die Leute abends ohne Laterne ausgingen, stießen sie mit den Köpfen zusammen.

Als aber die Teile des Monds in der Unterwelt sich wieder vereinigten, so wurden dort, wo immer Dunkelheit geherrscht hatte, die Toten unruhig und erwachten aus ihrem Schlaf. Sie erstaunten, als sie wieder sehen konnten: das Mondlicht war ihnen genug, denn ihre Augen waren so schwach geworden, daß sie den Glanz der Sonne nicht ertragen hätten. Sie erhoben sich, wurden lustig und nahmen ihre alte Lebensweise wieder an. Ein Teil ging zum Spiel und Tanz, andere liefen in die Wirtshäuser, wo sie Wein forderten, sich betranken, tobten und zankten, und endlich ihre Knüppel aufhoben und sich prügelten. Der Lärm ward immer ärger und drang endlich bis in den Himmel hinauf.

Der heilige Petrus, der das Himmelstor bewacht, glaubte, die Unterwelt wäre in Aufruhr geraten, und rief die himmlischen Heerscharen zusammen, die den bösen Feind, wenn er mit seinen Gesellen den Aufenthalt der Seligen stürmen wollte, zurückjagen sollten. Da sie aber nicht kamen, so setzte er sich auf sein Pferd und ritt durch das Himmelstor hinab in die Unterwelt. Da brachte er die Toten zur Ruhe, hieß sie sich wieder in ihre Gräber legen und nahm den Mond mit fort, den er oben am Himmel aufhing.

165 Der Vogel Greif

Es war einmal ein König, wo der regiert und wie er geheißen hat, weiß ich nicht mehr. Er hat keinen Sohn gehabt, nur eine einzige Tochter, die war immer krank, und kein Doktor konnte sie heilen. Da wurde dem König geweissagt, seine Tochter werde sich an Äpfeln gesundessen. Da ließ er durch sein ganzes Land bekanntmachen: Wer seiner Tochter Äpfel bringe, daß sie sich daran gesundessen könne, der könne sie zur Frau haben und obendrein König werden. Das hörte dann auch ein Bauer, der hatte drei Söhne. Er sagte zum ältesten: „Geh auf den Speicher, nimm einen Handkorb voll der schönsten Äpfeln mit roten Backen und trag sie zum Königshof; vielleicht kann sich die Königstochter dran gesundessen, und darfst sie heiraten und wirst König.“ Der Sohn machte es so und nahm den Weg unter seine Füße. Wie er eine Zeitlang gegangen war, begegnete er einem kleinen eisgrauen Männlein, das ihn fragte, was er in seinem Korb hätte. Ulrich – das war sein Name – sagte darauf: „Froschschenkel.“ Das Männlein sagte darauf: „Nun, so sollen’s welche sein und bleiben,“ und ist weitergegangen. Endlich kam Ulrich vor das Schloß und ließ sich anmelden und sagte, er habe Äpfel, die die Tochter gesundmachen würden, wenn sie davon äße. Das freute den König sehr, und er ließ den Ulrich zu sich kommen. Aber – o weh! – als er aufdeckte, so waren anstatt Äpfel Froschschenkel im Korb, die noch zappelten. Darüber wurde der König sehr böse und ließ ihn aus dem Schloß jagen. Wie er zu Hause angekommen war, erzählte er seinem Vater, wie es ihm ergangen war. Daraufhin schickte der Vater den nächst ältesten Sohn, der Samuel hieß; aber dem erging es genauso wie dem Ulrich. Ihm begegnete auch das kleine Männlein, das ihn fragte, was er im Korbe trage. Und Samuel sagte: „Schweinsborsten,“ und das eisgraue Männlein sagte: „Nun, so sollen’s welche sein und bleiben.“ Wie er nun vor das Königsschloß kam und sagte, er habe Äpfel, an denen sich die Königstochter gesundessen könne, so wollten die Wachen ihn nicht einlassen und sagten, es sei schon mal einer dagewesen, der sie zum Narren gehalten hätte. Samuel aber beharrte ernsthaft darauf, er habe gewiß Äpfel, sie sollten ihn nur einlassen. Endlich glaubten sie ihm und führten ihn vor den König. Aber als er seinen Korb aufdeckte, so hatte er halt nur Schweinsborsten dabei. Darüber erzürnte sich der König so schrecklich, daß er Samuel aus dem Schloß peitschen ließ. Zu Hause angekommen, erzählte er, wie es ihm ergangen war.

Da kam der jüngste Bub, der nur der dumme Hans genannt wurde, und fragte den Vater, ob er auch mit Äpfeln gehen dürfe. „Ja,“ sagte der Vater, „du wärst der rechte Kerl dazu. Wenn die gescheiten nichts ausrichten, was willst du dann ausrichten?“ Der Bub aber ließ nicht locker: „Jawohl, Vater, ich will auch gehen.“ – „Geh mir doch weg, du dummer Kerl, du mußt warten, bis du gescheiter wirst,“ sagte darauf der Vater und kehrte ihm den Rücken. Der Hans aber zupft ihn hinten am Kittel: „Vater, ich will auch gehen!“ – „Nun, meinetwegen, so geh! Du wirst wohl wieder zurückkommen,“ gab der Vater grantig zur Antwort. Der Bub aber freute sich sehr und machte einen Luftsprung. „Ja, tu jetzt nicht wie ein Narr: du wirst von einem Tag zum andern immer dümmer,“ sagte der Vater wieder. Das aber machte dem Hans nichts aus, und er ließ sich in seiner Freude auch nicht stören. Weil es aber schon auf die Nacht zuging, so dachte er, er wolle warten bis zum Morgen, er komme heute doch nicht mehr zum Hofe. Nachts im Bett konnte er nicht schlafen, und wann er einmal eingeschlummert war, dann träumte er von schönen Jungfrauen, von Schlössern, Gold und Silber und allerhand solcher Sachen mehr. Am Morgen in der Frühe machte er sich auf den Weg, und gleich darauf begegnete ihm ein kleines mürrisches Männchen in einem eisgrauen Gewand und fragte ihn, was er da in seinem Korbe habe. Der Hans gab ihm zur Antwort, er habe Äpfel, an denen sich die Königstochter gesundessen sollte. „Nun,“ sagte das Männlein, „so sollen’s solche sein und bleiben.“

Aber am Hofe wollten sie den Hans durchaus nicht einlassen, denn es seien schon zwei dagewesen und hätten gesagt, sie brächten Äpfel: da habe der eine Froschschenkel, der andere Schweinsborsten dabeigehabt. Der Hans aber ließ nicht locker und sagte, er habe gewiß keine Froschschenkel, sondern die schönsten Äpfel, die im ganzen Königreich wüchsen. Wie er nun so offen daherredete, dachte der Torhüter, der könne nicht lügen und ließ ihn ein und hatte danach recht getan, denn als der Hans seinen Korb vor dem König abdeckte, so lagen goldgelbe Äpfel darin. Der König freute sich sehr und ließ gleich seiner Tochter davon bringen und wartete nun in banger Erwartung, bis man ihm Bericht brächte, welche Wirkung sie gehabt hätten. Aber nicht lange Zeit verging, so brachte ihm jemand den Bericht; aber wer ist’s gewesen? Seine Tochter selbst war es! Sobald sie von den Äpfeln gegessen hatte, war sie gesund aus dem Bett gesprungen. Was der König für eine Freude gehabt hatte, kann man nicht beschreiben. Aber jetzt wollte er seine Tochter dem Hans nicht zur Frau geben und sagte, er müsse erst einen Nachen machen, der auf dem trockenen Land noch besser ginge als im Wasser drin. Der Hans nahm die Bedingung an und ging heim und erzählte, wie es ihm ergangen sei. Da schickte der Vater den Ulrich ins Holz, um einen solchen Nachen zu machen. Er arbeitete fleißig und pfiff dazu. Am Mittag, als die Sonne am höchsten stand, kam ein kleines eisgraues Männlein und fragte, was er da mache. Der Ulrich gab ihm zur Antwort: „Einen Waschtrog.“ Das eisgraue Männlein sagte: „Nun, so sollen’s welche sein und bleiben.“ Am Abend meinte der Ulrich, er habe jetzt einen Nachen gemacht, aber als er sich hineinsetzen wollte, da waren’s lauter Waschtröge. Am andern Tag ging der Samuel in den Wald, aber es erging ihm genauso wie dem Ulrich. Am dritten Tag ging der dumme Hans. Er schaffte recht fleißig, daß der ganze Wald von seinen Schlägen widerhallte und pfiff und sang recht lustig dazu. Da kam wieder das eisgraue Männlein zu Mittag, wo es am heißesten war, und fragte, was er da mache. „Einen Nachen, der auf dem trockenen Land besser geht als auf dem Wasser,“ und wenn er damit fertig sei, so bekomme er die Königstochter zur Frau. „Nun,“ sagte das Männlein, „dann soll’s einer werden und bleiben.“ Am Abend, als die Sonne ganz golden untergegangen war, hatte der Hans seinen Nachen fertig mit allem, was dazu gehörte. Er setzte sich hinein und ruderte der Residenz des Königs zu. Der Nachen aber ging so geschwind wie der Wind. Der König sah es von weitem, wollte aber dem Hans seine Tochter noch nicht geben und sagte, er müsse erst noch hundert Hasen hüten – vom frühen Morgen bis zum späten Abend -und wenn ihm auch nur einer fortliefe, bekomme er die Tochter nicht. Der Hans war’s zufrieden, und gleich am andern Tag ging er mit seiner Herde auf die Weide und paßte sehr gut auf, daß ihm keiner davonliefe. Kurze Zeit danach kam eine Magd vom Schloß und sagte zum Hans, er solle ihr geschwind einen Hasen geben, sie hätten nämlich plötzlich Besuch bekommen. Der Hans aber merkte wohl, wo das hinaus wollte, und sagte, er gäbe keinen her, der König könne dann morgen seinem Besuch mit Hasenpfeffer aufwarten. Die Magd aber gab sich damit nicht zufrieden und fing am Ende auch noch zu schimpfen an. Da sagte der Hans, wenn die Königstochter selber komme, so wolle er ihr einen Hasen geben. Das sagte die Magd im Schloß, und die Königstochter ging daraufhin selbst. Unterdessen aber kam zum Hans wieder das eisgraue Männlein und fragte ihn, was er da tue. „Ha,“ sagte Hans, „ich muß hundert Hasen hüten, daß mir auch keiner davonläuft, dann darf ich die Königstochter heiraten und werde König.“ – „Gut,“ sagte das Männlein, „da hast du ein Pfeifchen, und wenn dir einer davonläuft, so pfeife nur, dann kommt er wieder zurück.“ Wie nun die Königstochter kam, gab Hans ihr einen Hasen in die Schürze. Aber wie sie hundert Schritte weg war, nahm er die Pfeife und pfiff, und der Hase sprang ihr aus der Schürze und – hast du’s nicht gesehen? – kehrte wieder zur Herde zurück. Als es nun Abend war, pfiff der Hasenhirte noch einmal und sah zu, daß alle da waren; dann trieb er sie zum Schloß. Der König war sehr verwundert, daß Hans imstande war, hundert Hasen zu hüten, ohne daß ihm einer davonlief. Er wollte ihm die Tochter aber immer noch nicht geben und sagte, er müsse ihm erst eine Feder aus dem Schwanz des Vogel Greif bringen. Da machte sich Hans auf den Weg und marschierte rüstig voran. Am Abend kam er zu einem Schloß, da bat er um ein Nachtlager, denn damals gab es noch keine Wirtshäuser; da sagte der Herr vom Schloß mit großer Freude zu und fragte ihn, wohin er wollte. Der Hans gab darauf zur Antwort: „Zum Vogel Greif.“ – „So, zum Vogel Greif? Hm, man sagt immer, der wisse alles, und ich habe den Schlüssel zur eisernen Geldkiste verloren: Ihr könnt doch so gut sein und ihn fragen, wo er sei.“ – „Ja freilich,“ sagte der Hans, „das will ich schon tun.“ Am Morgen in der Frühe ist er weitergegangen und kam unterwegs zu einem andern Schloß, in dem er wieder über Nacht blieb. Wie dort die Leute vernahmen, daß er zum Vogel Greif wolle, sagten sie, im Hause sei eine Tochter krank, und sie hätten schon alle Mittel versucht, aber keines habe bisher geholfen. Er solle doch so gut sein und den Vogel Greif fragen, was die Tochter wieder gesundmachen könne. Der Hans sagte, das wolle er gern tun, und ging weiter. Da kam er zu einem Wasser, und anstatt einer Fähre war da ein großer, großer Mann, der alle Leute hinübertragen mußte. Der Mann fragte den Hans, wo seine Reise hinginge. „Zum Vogel Greif,“ sagte der Hans. „Nun, wenn Ihr zu ihm kommt,“ sagte da der Mann, „so fragt ihn auch, warum ich alle Leute über das Wasser tragen muß.“ Da sagte der Hans: „Ja, mein Gott, ja, das will ich schon tun.“ Dann nahm ihn der Mann auf die Schulter und trug ihn hinüber. Endlich kam der Hans zum Haus vom Vogel Greif, aber es war nur seine Frau zu Hause und der Vogel Greif selber nicht. Da fragte ihn die Frau, was er wolle. Da erzählte ihr der Hans alles, daß er eine Feder aus dem Schwanz des Vogel Greif holen sollte, und dann hätten sie in einem Schloß den Schlüssel zur Geldkiste verloren, und er sollte den Vogel Greif fragen, wo der Schlüssel sei. Dann sei in einem andern Schloß eine Tochter krank, und er sollte wissen, was das Mädchen wieder gesund machte. Dann sei nicht weit von hier ein Wasser und ein Mann dabei, der die Leute hinübertragen müsse, und er möchte auch gern wissen, warum dieser Mann alle Leute hinübertragen müsse. Da sagte die Frau: „Ja schaut, mein guter Freund, es kann kein Christ mit dem Vogel Greif reden, er frißt sie alle; wenn Ihr aber wollt, so könnt Ihr Euch unter sein Bett legen, und zur Nacht, wenn er recht fest schläft, könnt Ihr herauflangen und eine Feder aus seinem Schwanz reißen; und wegen der Sachen, die Ihr wissen wollt, will ich ihn selber fragen.“

Der Hans war damit zufrieden und legte sich unter das Bett. Am Abend kam der Vogel Greif heim. Und wie er in die Stube kam, so sagte er: „Frau, ich rieche einen Christen! Hier schmeckt’s nach Mensch!“ – „Ja,“ sagte da die Frau, „es war heut einer da, aber er ist wieder fortgegangen“; und da sagte der Vogel Greif nichts mehr. Mitten in der Nacht, als der Vogel Greif recht schnarchte, langte Hans hinauf und riß ihm eine Feder aus dem Schwanz. Da schreckte der Vogel Greif plötzlich hoch und sagte: „Frau, ich rieche einen Menschen, und es ist mir, als habe mich jemand am Schwanz gezerrt!“ Da sagte die Frau: „Du hast gewiß geträumt, und ich hab dir ja heut schon gesagt, es war ein Mensch da, aber er ist wieder fort. Doch hat er mir allerhand Sachen erzählt. Sie hätten in einem Schloß den Schlüssel zur Geldkiste verloren und könnten ihn nicht mehr wiederfinden.“ – „Oh, die Narren,“ sagte der Vogel Greif, „der Schlüssel liegt im Holzhaus hinter der Tür unter einem Holzstoß.“ – „Und dann hat er auch gesagt, in einem Schloß sei eine Tochter krank, und sie wüßten kein Mittel, um sie gesundzumachen.“ – „Oh, die Narren,“ sagte der Vogel Greif, „unter der Kellerstiege hat eine Kröte ein Nest von ihren Haaren gemacht, und wenn sie die Haare wieder zurückbekommt, so wird sie gesund.“ – „Und dann hat er auch noch gesagt, es sei an einem Ort ein Wasser und ein Mann dabei, der müsse alle Leute darübertragen.“ – „Oh, der Narr,“ sagte der Vogel Greif, „täte er nur einmal einen mitten reinstellen, er müßte keinen mehr hinübertragen.“

Am andern Morgen in der Frühe stand der Vogel Greif auf und ging fort. Da kam Hans unter dem Bett hervor und hatte eine schöne Feder; auch hatte er gehört, was der Vogel Greif gesagt hatte wegen des Schlüssels und der Tochter und dem Manne. Die Frau vom Vogel Greif erzählte ihm dann alles noch einmal, daß er nichts vergesse, und dann ging er wieder nach Hause. Zuerst kam er zu dem Mann am Wasser, der ihn gleich fragte, was der Vogel Greif gesagt habe. Da sagte der Hans, er solle ihn erst hinübertragen, er wolle es ihm dann drüben, am andern Ufer, sagen. Da trug ihn der Mann hinüber. Als er drüben war, sagte ihm der Hans, er sollte nur einmal einen mitten hinein in den Fluß stellen, so müßte er keinen mehr hinübertragen. Da freute sich der Mann vom Wasser sehr und sagte zum Hans, er wolle ihn zum Dank noch einmal hin- und zurücktragen. Da sagte der Hans, er wolle ihm die Mühe ersparen, er sei schon mit ihm zufrieden und ging weiter. Da kam er zu dem Schloß, wo die Tochter krank war, nahm sie auf die Schultern, denn sie konnte nicht laufen, trug sie die Kellerstiege hinab und nahm das Krötennest unter der untersten Stufe vor und gab es der Tochter in die Hände. Die sprang plötzlich von der Schulter herunter, die Stiege hinauf und war wieder ganz gesund. Jetzt hatten der Vater und die Mutter eine große Freude und schenkten dem Hans Gold und Silber, und was er immer nur haben wollte, das gaben sie ihm. Als Hans nun zu dem andern Schloß kam, ging er gleich ins Holzhaus, und richtig, hinter der Tür unter einem Holzstoß fand er den Schlüssel, den er sogleich dem Herrn brachte. Er freute sich nicht wenig und gab dem Hans zur Belohnung viel von dem Gold, das in der Kiste war, und sonst noch allerhand Sachen, wie Kühe und Schafe und Geißen.

Wie der Hans zum König kam mit all seinen Sachen, mit dem Geld und Gold und Silber und den Kühen, Schafen und Geißen, fragte ihn der König, woher er das alles nur habe. Da sagte der Hans, der Vogel Greif gebe einem, so viel man wollte. Da dachte der König, er könne das auch brauchen, und machte sich auf den Weg zum Vogel Greif. Und als er zum Wasser kam, da war er der erste, der nach dem Hans kam, und der Mann stellte ihn mitten im Wasser ab und ging fort. Und der König ertrank. Der Hans aber heiratete die Tochter und wurde König.

Vogel Phönix.

Eines Tags ging ein reicher Mann spazieren an den Fluß, da kam ein kleines Kästchen geschwommen, dies Kästchen nahm er und machte den Deckel auf, da lag ein kleines Kind darin, welches er mit heim nahm und aufziehen ließ. Der Verwalter konnte aber das Kind nicht leiden, und einmal nahm ers mit sich in einem Kahn auf den Fluß, und als er mitten darin war, sprang er schnell heraus ans Land, und ließ das Kind allein im Kahn. Und der Kahn trieb immer fort, bis an die Mühle, da sah der Müller das Kind und erbarmte sich, nahm es heraus und erzog es in seinem Haus. Einmal aber kam von ungefähr der Verwalter in dieselbe Mühle, erkannte das Kind und nahm es mit sich. Bald darauf gab er dem jungen Menschen einen Brief zu tragen an seine Frau, worin stand: „den Ueberbringer dieses Briefs sollst du den Augenblick umbringen.“ Unterwegs aber begegnete dem jungen Menschen im Walde ein alter Mann, welcher sprach: weis’ mir doch einmal den Brief, den du da in der Hand trägst! Da nahm er ihn, drehte ihn bloß einmal herum und gab ihn wieder, nun stand darin: dem Ueberbringer sollst du augenblicks unsere Tochter zur Frau geben! So geschah es, und als der Verwalter das hörte, gerieth er in Aerger und sagte: „he, so geschwind gehts nicht, eh ich dir meine Tochter lasse, sollst du mir erst drei Federn vom Vogel Phönix bringen.“

Der Jüngling machte sich auf den Weg nach dem Vogel Phönix, und an derselben Stelle im Wald begegnete ihm wieder derselbe alte Mann und sprach: geh den ganzen Tag weiter fort, Abends wirst du an einen Baum kommen, darauf zwei Tauben sitzen, die werden dir das weitere sagen! Wie er Abends an den Baum kam, saßen zwei Tauben drauf. Die eine Taube sprach: wer da zum Vogel Phönix will, muß gehen den ganzen Tag, so wird er Abends an ein Tor kommen, das ist zugeschlossen. Die andere Taube sprach: unter diesem Baum liegt ein Schlüssel von Gold, der schließt das Tor auf. Da fand er den Schlüssel und schloß das Tor damit auf; hinterm Tor, da saßen zwei Männer, der eine Mann sprach: wer den Vogel Phönix sucht, muß einen großen Weg machen über den hohen Berg, und dann wird er endlich in das Schloß kommen.

Am Abend des dritten Tags langte er endlich im Schloß an, da saß ein weißes Mamsellchen, und sprach: was wollt ihr hier? – Ach, ich will mir gern drei Federn vom Vogel Phönix holen. Sie sprach: ihr seyd in Lebensgefahr, denn wo euch der Vogel Phönix gewahr würde, fräße er euch auf mit Haut und Haar, doch will ich sehen, wie ich euch zu den drei Federn verhelfe, alle Tage kommt er hierher, da muß ich ihn mit einem engen Kamm kämmen; geschwind hier unter den Tisch, der war rund um mit Tuch beschlagen.

Indem kam der Vogel Phönix heim, setzte sich oben auf den Tisch und sprach: ich wittere, wittere Menschenfleisch! – „Ach was? ihr seht ja wohl, daß niemand hier ist“ – kämm mich nun, sprach der Vogel Phönix.

Das weiße Mamsellchen kämmte ihn nun, und er schlief darüber ein; wie er recht fest schlief, packte sie eine Feder, zog sie aus und warf sie unterm Tisch. Da wachte er auf: „was raufst du mich so? mir hat geträumt, es käme ein Mensch und zöge mir eine Feder aus.“ Sie stellte ihn aber zufrieden, und so gings das anderemal und das drittemal. Wie der junge Mensch die drei Federn hatte, zog er damit heim und bekam nun seine Braut.

143 Auf Reisen Gehen
Es war einmal eine arme Frau, die hatte einen Sohn, der wollte so gerne reisen. Da sagte die Mutter: „Wie kannst du reisen? Wir haben ja gar kein Geld, das du mitnehmen kannst.“ Da sagte der Sohn: „Ich werde mir schon helfen, und werde immer sagen: Nicht viel, nicht viel, nicht viel!“

Da ging er nun eine gute Zeit dahin und sagte immer: „Nicht viel, nicht viel!“ Kam er zu einigen Fischern und sagte: „Gott helf euch! Nicht viel, nicht viel, nicht viel!“ – „Was sagst du, Kerl, nicht viel?“ Und als sie das Fischergarn (Netz) herauszogen, kriegten sie auch nicht viele Fische. Einer der Fischer ging daraufhin mit einem Stock auf den Jungen los und sagte: „Jetzt sollst du mal deine Dresche sehen!“ und verdrosch ihn jämmerlich. „Was soll ich denn sagen?“ fragte der Junge. „Du sollst sagen: Fang voll, fang voll!“

Da ging er wieder eine Zeitlang und sagte: „Fang voll, fang voll,“ bis er an einen Galgen kam, wo gerade ein armer Sünder gerichtet werden sollte. Da sagte er: „Guten Morgen, fang voll, fang voll.“ – „Was sagst du, Kerl, fang voll? Soll es denn noch mehr böse Leute in der Welt geben? Ist das noch nicht genug?“ Und er kriegte wieder etwas auf den Buckel drauf. „Was soll ich denn sagen?“ – „Du sollst sagen: Gott tröste die arme Seele.“

Der Junge ging wieder eine ganze Zeit und sagte: „Gott tröste die arme Seele.“ Da kam er an einen Graben, da stand ein Schinder (Abdecker), der zog einem Pferd die Haut ab. Der Junge sagte: „Guten Morgen, Gott tröste die arme Seele!“ – „Was sagst du da, dummer Kerl?“ sagte der Schinder und schlug ihm mit seinem Schinderhaken eins hinter die Ohren, daß er nicht mehr aus den Augen sehen konnte. „Was soll ich denn sonst sagen?“ – „Du sollst sagen: da liegt das Aas im Graben!“

Da ging er wieder weiter und sagte immerzu: „Da liegt das Aas im Graben! Da liegt das Aas im Graben!“ Dann kam er zu einem Wagen voll Leute, und sagte: „Guten Morgen! Da liegt das Aas im Graben!“ Da fiel der Wagen um in einen Graben, der Knecht kriegte die Peitsche her und verbläute den Jungen so, daß er zu seiner Mutter heimkriechen mußte. Und er ist sein Lebtag nie wieder auf Reisen gegangen.

134 Die sechs Diener
Vor Zeiten lebte eine alte Königin, die war eine Zauberin, und ihre Tochter war das schönste Mädchen unter der Sonne. Die Alte dachte aber auf nichts, als wie sie die Menschen ins Verderben locken könnte, und wenn ein Freier kam, so sprach sie, wer ihre Tochter haben wollte, müßte zuvor eine Aufgabe lösen, oder er müßte sterben. Viele waren von der Schönheit der Jungfrau verblendet und wagten es wohl, aber sie konnten nicht vollbringen, was die Alte ihnen auflegte, und dann war keine Gnade, sie mußten niederknien, und das Haupt ward ihnen abgeschlagen.

Ein Königssohn, der hatte auch von der großen Schönheit der Jungfrau gehört und sprach zu seinem Vater: „Laßt mich hinziehen, ich will um sie werben.“

„Nimmermehr,“ antwortete der König, „gehst du fort, so gehst du in deinen Tod.“

Da legte der Sohn sich nieder und ward sterbenskrank und lag sieben Jahre lang, und kein Arzt konnte ihm helfen. Als der Vater sah, daß keine Hoffnung mehr war, sprach er voll Herzenstraurigkeit zu ihm: „Zieh hin und versuche dein Glück, ich weiß dir sonst nicht zu helfen.“ Wie der Sohn das hörte, stand er auf von seinem Lager, ward gesund und machte sich fröhlich auf den Weg.

Es trug sich zu, als er über eine Heide zu reiten kam, daß er von weitem auf der Erde etwas liegen sah wie einen großen Heuhaufen, und wie er sich näherte, konnte er unterscheiden, daß es der Bauch eines Menschen war, der sich dahingestreckt hatte; der Bauch aber sah aus wie ein kleiner Berg. Der Dicke, wie er den Reisenden erblickte, richtete sich in die Höhe und sprach: „Wenn Ihr jemand braucht, so nehmt mich in Eure Dienste.“
Der Königssohn antwortete: „Was soll ich mit einem so ungefügen Mann anfangen?“
„Oh,“ sprach der Dicke, „das will nichts sagen, wenn ich mich recht auseinander tue, bin ich noch dreitausendmal so dick.“
„Wenn das ist,“ sagte der Königssohn, „so kann ich dich brauchen, komm mit mir.“
Da ging der Dicke hinter dem Königssohn her, und über eine Weile fanden sie einen andern, der lag da auf der Erde und hatte das Ohr auf den Rasen gelegt. Fragte der Königssohn: „Was machst du da?“
„Ich horche,“ antwortete der Mann.
„Wonach horchst du so aufmerksam?“
„Ich horche nach dem, was eben in der Welt sich zuträgt, denn meinen Ohren entgeht nichts, das Gras sogar hör ich wachsen.
Fragte der Königssohn: „Sage mir, was hörst du am Hofe der alten Königin, welche die schöne Tochter hat?“
Da antwortete er: „Ich höre das Schwert sausen, das einem Freier den Kopf abschlägt.“ Der Königssohn sprach: „Ich kann dich brauchen, komm mit mir.“ Da zogen sie weiter und sahen einmal ein Paar Füße da liegen und auch etwas von den Beinen, aber das Ende konnten sie nicht sehen. Als sie eine gute Strecke fortgegangen waren, kamen sie zu dem Leib und endlich auch zu dem Kopf. „Ei,“ sprach der Königssohn, „was bist du für ein langer Strick!“ 
„Oh,“ antwortete der Lange, „das ist noch gar nichts, wenn ich meine Gliedmaßen erst recht ausstrecke, bin ich noch dreitausendmal so lang und bin größer als der höchste Berg auf Erden. Ich will Euch gerne dienen, wenn Ihr mich annehmen wollt.“
„Komm mit,“ sprach der Königssohn, „ich kann dich brauchen.“
Sie zogen weiter und fanden einen am Weg sitzen, der hatte die Augen zugebunden. Sprach der Königssohn zu ihm: „Hast du blöde Augen, daß du nicht in das Licht sehen kannst?“ 
„Nein,“ antwortete der Mann, „ich darf die Binde nicht abnehmen, denn was ich mit meinen Augen ansehe, das springt auseinander, so gewaltig ist mein Blick. Kann Euch das nützen, so will ich Euch gern dienen.“ 
„Komm mit,“ antwortete der Königssohn, „ich kann dich brauchen.“ Sie zogen weiter und fanden einen Mann, der lag mitten im heißen Sonnenschein und zitterte und fror am ganzen Leibe, so daß ihm kein Glied stillstand. „Wie kannst du frieren?“ sprach der Königssohn, „und die Sonne scheint so warm.“
„Ach,“ antwortete der Mann, „meine Natur ist ganz anderer Art, je heißer es ist, desto mehr frier ich, und der Frost dringt mir durch alle Knochen. Und je kälter es ist, desto heißer wird mir. Mitten im Eis kann ich’s vor Hitze und mitten im Feuer vor Kälte nicht aushalten.“ 

„Du bist ein wunderlicher Kerl,“ sprach der Königssohn, „aber wenn du mir dienen willst, so komm mit.“ Nun zogen sie weiter und sahen einen Mann stehen, der machte einen langen Hals, schaute sich um und schaute über alle Berge hinaus. Sprach der Königssohn: „Wonach siehst du so eifrig?“
Der Mann antwortete: „Ich habe so helle Augen, daß ich über alle Wälder und Felder, Täler und Berge hinaus und durch die ganze Welt sehen kann.“ Der Königssohn sprach: „Willst du, so komm mit mir, denn so einer fehlte mir noch.“

Nun zog der Königssohn mit seinen sechs Dienern in die Stadt ein, wo die alte Königin lebte. Er sagte nicht, wer er wäre, aber er sprach: „Wollt Ihr mir Eure schöne Tochter geben, so will ich vollbringen, was Ihr mir auferlegt.“ Die Zauberin freute sich, daß ein so schöner Jüngling wieder in ihre Netze fiel, und sprach: „Dreimal will ich dir eine Aufgabe aufgeben, lösest du sie jedesmal, so sollst du der Herr und Gemahl meiner Tochter werden.“

„Was soll das erste sein?“ fragte er.
„Daß du mir einen Ring herbeibringst, den ich ins Rote Meer habe fallen lassen.“ Da ging der Königssohn heim zu seinen Dienern und sprach: „Die erste Aufgabe ist nicht leicht, ein Ring soll aus dem Roten Meer geholt werden, nun schafft Rat.“ Da sprach der mit den hellen Augen: „Ich will sehen, wo er liegt,“ schaute in das Meer hinab und sagte: „Dort hängt er an einem spitzen Stein.“ Der Lange trug sie hin und sprach: „Ich wollte ihn wohl herausholen, wenn ich ihn nur sehen könnte.“
„Wenn’s weiter nichts ist,“ rief der Dicke, legte sich nieder und hielt seinen Mund ans Wasser. Da fielen die Wellen hinein wie in einen Abgrund, und er trank das ganze Meer aus, daß es trocken ward wie eine Wiese. Der Lange bückte sich ein wenig und holte den Ring mit der Hand heraus. Da ward der Königssohn froh, als er den Ring hatte, und brachte ihn der Alten. 

Sie erstaunte und sprach: „Ja, es ist der rechte Ring. Die erste Aufgabe hast du glücklich gelöst, aber nun kommt die zweite. Siehst du, dort auf der Wiese vor meinem Schlosse, da weiden dreihundert fette Ochsen, die mußt du mit Haut und Haar, Knochen und Hörnern verzehren. Und unten im Keller liegen dreihundert Fässer Wein, die mußt du dazu austrinken, und bleibt von den Ochsen ein Haar und von dem Wein ein Tröpfchen übrig, so ist mir dein Leben verfallen.“
Sprach der Königssohn: „Darf ich mir keine Gäste dazu laden? Ohne Gesellschaft schmeckt keine Mahlzeit.“

Die Alte lachte boshaft und antwortete: „Einen darfst du dir dazu laden, damit du Gesellschaft hast, aber weiter keinen.“
Da ging der Königssohn zu seinen Dienern und sprach zu dem Dicken: „Du sollst heute mein Gast sein und dich einmal satt essen.“ Da tat sich der Dicke voneinander und aß die dreihundert Ochsen, daß kein Haar übrigblieb, und fragte, ob weiter nichts als das Frühstück da wäre. Den Wein aber trank er gleich aus den Fässern, ohne daß er ein Glas nötig hatte, und trank den letzten Tropfen vom Nagel herunter.

Als die Mahlzeit zu Ende war, ging der Königssohn zur Alten und sagte ihr, die zweite Aufgabe wäre gelöst. Sie verwunderte sich und sprach: „So weit hat’s noch keiner gebracht, aber es ist noch eine Aufgabe übrig,“ und dachte: Du sollst mir nicht entgehen und wirst deinen Kopf nicht oben behalten. „Heute abend,“ sprach sie, „bring ich meine Tochter zu dir in deine Kammer, und du sollst sie mit deinem Arm umschlingen. Und wenn ihr da beisammen sitzt, so hüte dich, daß du nicht einschläfst. Ich komme Schlag zwölf Uhr, und ist sie dann nicht mehr in deinen Armen, so hast du verloren.“ Der Königssohn dachte: Der Bund ist leicht, ich will wohl meine Augen offen behalten, doch rief er seine Diener, erzählte ihnen, was die Alte gesagt hatte, und sprach: „Wer weiß, was für eine List dahintersteckt, Vorsicht ist gut, haltet Wache und sorgt, daß die Jungfrau nicht wieder aus meiner Kammer kommt.“ 

Als die Nacht einbrach, kam die Alte mit ihrer Tochter und führte sie in die Arme des Königssohns, und dann schlang sich der Lange um sie beide in einen Kreis, und der Dicke stellte sich vor die Türe, also daß keine lebendige Seele herein konnte. Da saßen sie beide, und die Jungfrau sprach kein Wort, aber der Mond schien durchs Fenster auf ihr Angesicht, daß er ihre wunderbare Schönheit sehen konnte. Er tat nichts als sie anschauen, war voll Freude und Liebe, und es kam keine Müdigkeit in seine Augen.
Das dauerte bis elf Uhr, da warf die Alte einen Zauber über alle, daß sie einschliefen, und in dem Augenblick war auch die Jungfrau entrückt.
Nun schliefen sie hart bis ein Viertel vor zwölf, da war der Zauber kraftlos, und sie erwachten alle wieder.

„O Jammer und Unglück,“ rief der Königssohn, „nun bin ich verloren!“ Die treuen Diener fingen auch an zu klagen, aber der Horcher sprach: „Seid still, ich will horchen,“ da horchte er einen Augenblick, und dann sprach er: „Sie sitzt in einem Felsen dreihundert Stunden von hier und bejammert ihr Schicksal. Du allein kannst helfen, Langer, wenn du dich aufrichtest, so bist du mit ein paar Schritten dort.“

„Ja,“ antwortete der Lange, „aber der mit den scharfen Augen muß mitgehen, damit wir den Felsen wegschaffen.“ Da huckte der Lange den mit den verbundenen Augen auf, und im Augenblick, wie man eine Hand umwendet, waren sie vor dem verwünschten Felsen. Alsbald nahm der Lange dem andern die Binde von den Augen, der sich nur umschaute, so zersprang der Felsen in tausend Stücke. Da nahm der Lange die Jungfrau auf den Arm, trug sie in einem Nu zurück, holte ebensoschnell auch noch seinen Kameraden, und eh es zwölfe schlug, saßen sie alle wieder wie vorher und waren munter und guter Dinge.

Als es zwölf schlug, kam die alte Zauberin herbeigeschlichen, machte ein höhnisches Gesicht, als wollte sie sagen: „Nun ist er mein,“ und glaubte, ihre Tochter säße dreihundert Stunden weit im Felsen. Als sie aber ihre Tochter in den Armen des Königssohns erblickte, erschrak sie und sprach: „Da ist einer, der kann mehr als ich.“ Aber sie durfte nichts einwenden und mußte ihm die Jungfrau zusagen. Da sprach sie ihr ins Ohr: „Schande für dich, daß du gemeinem Volk gehorchen sollst und dir einen Gemahl nicht nach deinem Gefallen wählen darfst.“

Da ward das stolze Herz der Jungfrau mit Zorn erfüllt und sann auf Rache. Sie ließ am andern Morgen dreihundert Malter Holz zusammenfahren und sprach zu dem Königssohn, die drei Aufgaben wären gelöst, sie würde aber nicht eher seine Gemahlin werden, bis einer bereit wäre, sich mitten in das Holz zu setzen und das Feuer auszuhalten. Sie dachte, keiner seiner Diener würde sich für ihn verbrennen und aus Liebe zu ihr würde er selber sich hineinsetzen und dann wäre sie frei. Die Diener aber sprachen: „Wir haben alle etwas getan, nur der Frostige noch nicht, der muß auch daran,“ setzten ihn mitten auf den Holzstoß und steckten ihn an. Da begann das Feuer zu brennen und brannte drei Tage, bis alles Holz verzehrt war, und als die Flammen sich legten, stand der Frostige mitten in der Asche, zitterte wie ein Espenlaub und sprach: „Einen solchen Frost habe ich mein Lebtage nicht ausgehalten, und wenn er länger gedauert hätte, so wäre ich erstarrt.“

Nun war keine Ausflucht mehr zu finden, die schöne Jungfrau mußte den unbekannten Jüngling zum Gemahl nehmen. Als sie aber nach der Kirche fuhren, sprach die Alte: „Ich kann die Schande nicht ertragen,“ und schickte ihr Kriegsvolk nach, das sollte alles niedermachen, was ihm vorkäme, und ihr die Tochter zurückbringen. Der Horcher aber hatte die Ohren gespitzt und die heimlichen Reden der Alten vernommen.

„Was fangen wir an?“ sprach er zu dem Dicken, aber der wußte Rat, spie einmal oder zweimal hinter dem Wagen einen Teil von dem Meereswasser aus, das er getrunken hatte, da entstand ein großer See, worin die Kriegsvölker steckenblieben und ertranken. Als die Zauberin das vernahm, schickte sie ihre geharnischten Reiter, aber der Horcher hörte das Rasseln ihrer Rüstung und band dem einen die Augen auf, der guckte die Feinde ein bißchen scharf an, da sprangen sie auseinander wie Glas. Nun fuhren sie ungestört weiter, und als die beiden in der Kirche eingesegnet waren, nahmen die sechs Diener ihren Abschied und sprachen zu ihrem Herrn: „Eure Wünsche sind erfüllt. Ihr habt uns nicht mehr nötig, wir wollen weiter ziehen und unser Glück versuchen. 

Eine halbe Stunde vor dem Schloß war ein Dorf, vor dem hütete ein Schweinehirt seine Herde. Wie sie dahin kamen, sprach er zu seiner Frau: „Weißt du auch recht, wer ich bin? Ich bin kein Königssohn, sondern ein Schweinehirt, und der mit der Herde dort, das ist mein Vater. Wir zwei müssen auch daran und ihm helfen hüten.“ Dann stieg er mit ihr in das Wirtshaus ab und sagte heimlich zu den Wirtsleuten, in der Nacht sollten sie ihr die königlichen Kleider wegnehmen. Wie sie nun am Morgen aufwachte, hatte sie nichts anzutun, und die Wirtin gab ihr einen alten Rock und ein Paar alte, wollene Strümpfe, dabei tat sie noch, als wär’s ein großes Geschenk, und sprach: „Wenn nicht Eurer Mann wäre, hätt ich’s Euch gar nicht gegeben.“ Da glaubte sie, er wäre wirklich ein Schweinehirt, und hütete mit ihm die Herde und dachte: Ich habe es verdient mit meinem Übermut und Stolz. Das dauerte acht Tage, da konnte sie es nicht mehr aushalten, denn die Füße waren ihr wund geworden. Da kamen ein paar Leute und fragten, ob sie wüßte, wer ihr Mann wäre.

„Ja,“ antwortete sie, „er ist ein Schweinehirt und ist eben ausgegangen, mit Bändern und Schnüren einen kleinen Handel zu treiben.“ Sie sprachen aber: „Kommt einmal mit, wir wollen Euch zu ihm hinführen,“ und brachten sie ins Schloß hinauf; und wie sie in den Saal kam, stand da ihr Mann in königlichen Kleidern. Sie erkannte ihn aber nicht, bis er ihr um den Hals fiel, sie küßte und sprach: „Ich habe so viel für dich gelitten, da hast du auch für mich leiden sollen.“ Nun ward erst die Hochzeit gefeiert, und der’s erzählt hat, wollte, er wäre auch dabeigewesen.

166 Der starke Hans

Es war einmal ein Mann und eine Frau, die hatten nur ein einziges Kind und lebten in einem abseits gelegenen Tale ganz allein. Es trug sich zu, daß die Mutter einmal ins Holz ging, Tannenreiser zu lesen, und den kleinen Hans, der erst zwei Jahr alt war, mitnahm. Da es gerade in der Frühlingszeit war und das Kind seine Freude an den bunten Blumen hatte, so ging sie immer weiter mit ihm in den Wald hinein.

Plötzlich sprangen aus dem Gebüsch zwei Räuber hervor, packten die Mutter und das Kind und führten sie tief in den schwarzen Wald, wo jahraus, jahrein kein Mensch hinkam. Die arme Frau bat die Räuber inständig, sie mit ihrem Kinde freizulassen, aber das Herz der Räuber war von Stein; sie hörten nicht auf ihr Bitten und Flehen und trieben sie mit Gewalt an weiterzugehen.

Nachdem sie etwa zwei Stunden durch Stauden und Dörner sich hatten durcharbeiten müssen, kamen sie zu einem Felsen, wo eine Türe war, an welche die Räuber klopften und die sich alsbald öffnete. Sie mußten durch einen langen, dunkelen Gang und kamen endlich in eine große Höhle, die von einem Feuer, das auf dem Herd brannte, erleuchtet war. An der Wand hingen Schwerter, Säbel und andere Mordgewehre, die in dem Lichte blinkten, und in der Mitte stand ein schwarzer Tisch, an dem vier andere Räuber saßen und spielten, und obenan saß der Hauptmann. Dieser kam, als er die Frau sah, herbei, redete sie an und sagte, sie sollte nur ruhig und ohne Angst sein, sie täten ihr nichts zuleid, aber sie müßte das Hauswesen besorgen, und wenn sie alles in Ordnung hielte, so sollte sie es nicht schlimm bei ihnen haben. Darauf gaben sie ihr etwas zu essen und zeigten ihr ein Bett, wo sie mit ihrem Kinde schlafen könnte.

Die Frau blieb viele Jahre bei den Räubern, und Hans ward groß und stark. Die Mutter erzählte ihm Geschichten und lehrte ihn in einem alten Ritterbuch, das sie in der Höhle fand, lesen. Als Hans neun Jahre alt war, machte er sich aus einem Tannenast einen starken Knüttel und versteckte ihn hinter das Bett; dann ging er zu seiner Mutter und sprach: „Liebe Mutter, sage mir jetzt einmal, wer mein Vater ist, ich will und muß es wissen.“ Die Mutter schwieg still und wollte es ihm nicht sagen, damit er nicht das Heimweh bekäme; sie wußte auch, daß die gottlosen Räuber den Hans doch nicht fortlassen würden; aber es hätte ihr fast das Herz zersprengt, daß Hans nicht sollte zu seinem Vater kommen.

In der Nacht, als die Räuber von ihrem Raubzug heimkehrten, holte Hans seinen Knüttel hervor, stellte sich vor den Hauptmann und sagte: „Jetzt will ich wissen, wer mein Vater ist, und wenn du mir’s nicht gleich sagst, so schlag ich dich nieder.“ Da lachte der Hauptmann und gab dem Hans eine Ohrfeige, daß er unter den Tisch kugelte. Hans machte sich wieder auf, schwieg und dachte: Ich will noch ein Jahr warten und es dann noch einmal versuchen, vielleicht geht’s besser.

Als das Jahr herum war, holte er seinen Knüttel wieder hervor, wischte den Staub ab, betrachtete ihn und sprach: „Es ist ein tüchtiger, wackerer Knüttel.“ Nachts kamen die Räuber heim, tranken Wein, einen Krug nach dem anderen, und fingen an die Köpfe zu hängen. Da holte der Hans seinen Knüttel herbei, stellte sich wieder vor den Hauptmann und fragte ihn, wer sein Vater wäre. Der Hauptmann gab ihm abermals eine so kräftige Ohrfeige, daß Hans unter den Tisch rollte, aber es dauerte nicht lange, so war er wieder oben und schlug mit seinem Knüttel auf den Hauptmann und die Räuber, daß sie Arme und Beine nicht mehr regen konnten. Die Mutter stand in einer Ecke und war voll Verwunderung über seine Tapferkeit und Stärke. Als Hans mit seiner Arbeit fertig war, ging er zu seiner Mutter und sagte: „Jetzt ist mir’s Ernst gewesen, aber jetzt muß ich auch wissen, wer mein Vater ist.“

„Lieber Hans,“ antwortete die Mutter, „komm, wir wollen gehen und ihn suchen, bis wir ihn finden.“ Sie nahm dem Hauptmann den Schlüssel zu der Eingangstüre ab, und Hans holte einen großen Mehlsack, packte Gold, Silber, und was er sonst noch für schöne Sachen fand, zusammen, bis er voll war, und nahm ihn dann auf den Rücken. Sie verließen die Höhle, aber was tat Hans die Augen auf, als er aus der Finsternis heraus in das Tageslicht kam und den grünen Wald, Blumen und Vögel und die Morgensonne am Himmel erblickte. Er stand da und staunte alles an, als wenn er nicht recht gescheit wäre. Die Mutter suchte den Weg nach Haus, und als sie ein paar Stunden gegangen waren, so kamen sie glücklich in ihr einsames Tal und zu ihrem Häuschen.

Der Vater saß unter der Türe, er weinte vor Freude, als er seine Frau erkannte und hörte, daß Hans sein Sohn war, die er beide längst für tot gehalten hatte. Aber Hans, obgleich erst zwölf Jahr alt, war doch einen Kopf größer als sein Vater. Sie gingen zusammen in das Stübchen, aber kaum hatte Hans seinen Sack auf die Ofenbank gesetzt, so fing das ganze Haus an zu krachen, die Bank brach ein und dann auch der Fußboden, und der schwere Sack sank in den Keller hinab.

„Gott behüte uns,“ rief der Vater, „was ist das? Jetzt hast du unser Häuschen zerbrochen.“

„Laßt Euch keine graue Haare darüber wachsen, lieber Vater,“ antwortete Hans, „da in dem Sack steckt mehr, als für ein neues Haus nötig ist.“ Der Vater und Hans fingen auch gleich an, ein neues Haus zu bauen, Vieh zu erhandeln und Land zu kaufen und zu wirtschaften. Hans ackerte die Felder, und wenn er hinter dem Pflug ging und ihn in die Erde hineinschob, so hatten die Stiere fast nicht nötig zu ziehen.

Den nächsten Frühling sagte Hans: „Vater, behaltet alles Geld, und laßt mir einen zentnerschweren Spazierstab machen, damit ich in die Fremde gehen kann.“ Als der verlangte Stab fertig war, verließ er seines Vaters Haus, zog fort und kam in einen tiefen und finstern Wald. Da hörte er etwas knistern und knastern, schaute um sich und sah eine Tanne, die von unten bis oben wie ein Seil gewunden war; und wie er die Augen in die Höhe richtete, so erblickte er einen großen Kerl, der den Baum gepackt hatte und ihn wie eine Weidenrute umdrehte. „He!“ rief Hans, „was machst du da droben?“ Der Kerl antwortete: „Ich habe gestern Reiswellen zusammengetragen und will mir ein Seil dazu drehen.“ – Das laß ich mir gefallen, dachte Hans, der hat Kräfte, und rief ihm zu: „Laß du das gut sein, und komm mit mir.“ Der Kerl kletterte von oben herab und war einen ganzen Kopf größer als Hans, und der war doch auch nicht klein. „Du heißest jetzt Tannendreher,“ sagte Hans zu ihm.

Sie gingen darauf weiter und hörten etwas klopfen und hämmern, so stark, daß bei jedem Schlag der Erdboden zitterte. Bald darauf kamen sie zu einem mächtigen Felsen, vor dem stand ein Riese und schlug mit der Faust große Stücke davon ab. Als Hans fragte, was er da vorhätte, antwortete er: „Wenn ich nachts schlafen will, so kommen Bären, Wölfe und anderes Ungeziefer der Art, die schnuppern und schnuffeln an mir herum und lassen mich nicht schlafen, da will ich mir ein Haus bauen und mich hineinlegen, damit ich Ruhe habe.“ – Ei ja wohl, dachte Hans, den kannst du auch noch brauchen, und sprach zu ihm: „Laß das Hausbauen gut sein, und geh mit mir, du sollst der Felsenklipperer heißen.“ Er willigte ein, und sie strichen alle drei durch den Wald hin, und wo sie hinkamen, da wurden die wilden Tiere aufgeschreckt und liefen vor ihnen weg.

Abends kamen sie in ein altes, verlassenes Schloß, stiegen hinauf und legten sich in den Saal schlafen. Am andern Morgen ging Hans hinab in den Garten, der war ganz verwildert und stand voll Dörner und Gebüsch. Und wie er so herumging, sprang ein Wildschwein auf ihn los; er gab ihm aber mit seinem Stab einen Schlag, daß es gleich niederfiel. Dann nahm er es auf die Schulter und brachte es hinauf; da steckten sie es an einen Spieß, machten sich einen Braten zurecht und waren guter Dinge. Nun verabredeten sie, daß jeden Tag, der Reihe nach, zwei auf die Jagd gehen sollten und einer daheim bleiben und kochen, für jeden neun Pfund Fleisch.

Den ersten Tag blieb der Tannendreher daheim, und Hans und der Felsenklipperer gingen auf die Jagd. Als der Tannendreher beim Kochen beschäftigt war, kam ein kleines, altes, zusammengeschrumpeltes Männchen zu ihm auf das Schloß und forderte Fleisch.

„Pack dich, Duckmäuser,“ antwortete er, „du brauchst kein Fleisch.“ Aber wie verwunderte sich der Tannendreher, als das kleine, unscheinbare Männlein an ihm hinaufsprang und mit Fäusten so auf ihn losschlug, daß er sich nicht wehren konnte, zur Erde fiel und nach Atem schnappte. Das Männlein ging nicht eher fort, als bis es seinen Zorn völlig an ihm ausgelassen hatte. Als die zwei andern von der Jagd heimkamen, sagte ihnen der Tannendreher nichts von dem alten Männchen und den Schlägen, die er bekommen hatte, und dachte: Wenn sie daheim bleiben, so können sie’s auch einmal mit der kleinen Kratzbürste versuchen, und der bloße Gedanke machte ihm schon Vergnügen.

Den folgenden Tag blieb der Steinklipperer daheim, und dem ging es geradeso wie dem Tannendreher, er ward von dem Männlein übel zugerichtet, weil er ihm kein Fleisch hatte geben wollen. Als die andern abends nach Haus kamen, sah es ihm der Tannendreher wohl an, was er erfahren hatte, aber beide schwiegen still und dachten: Der Hans muß auch von der Suppe kosten.

Der Hans, der den nächsten Tag daheim bleiben mußte, tat seine Arbeit in der Küche, wie sich’s gebührte, und als er oben stand und den Kessel abschaumte, kam das Männchen und forderte ohne weiteres ein Stück Fleisch. Da dachte Hans: Es ist ein armer Wicht, ich will ihm von meinem Anteil geben, damit die andern nicht zu kurz kommen, und reichte ihm ein Stück Fleisch. Als es der Zwerg verzehrt hatte, verlangte er nochmals Fleisch, und der gutmütige Hans gab es ihm und sagte, da wäre noch ein schönes Stück, damit sollte er zufrieden sein. Der Zwerg forderte aber zum drittenmal.

„Du wirst unverschämt,“ sagte Hans und gab ihm nichts. Da wollte der boshafte Zwerg an ihm hinaufspringen und ihn wie den Tannendreher und Felsenklipperer behandeln, aber er kam an den Unrechten. Hans gab ihm, ohne sich anzustrengen, ein paar Hiebe, daß er die Schloßtreppe hinabsprang. Hans wollte ihm nachlaufen, fiel aber, so lang er war, über ihn hin. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, war ihm der Zwerg voraus. Hans eilte ihm bis in den Wald nach und sah, wie er in eine Felsenhöhle schlüpfte. Hans kehrte nun heim, hatte sich aber die Stelle gemerkt.

Die beiden andern, als sie nach Haus kamen, wunderten sich, daß Hans so wohlauf war. Er erzählte ihnen, was sich zugetragen hatte, und da verschwiegen sie nicht länger, wie es ihnen ergangen war. Hans lachte und sagte: „Es ist euch ganz recht, warum seid ihr so geizig mit eurem Fleisch gewesen, aber es ist eine Schande, ihr seid so groß und habt euch von dem Zwerge Schläge geben lassen.“

Sie nahmen darauf Korb und Seil und gingen alle drei zu der Felsenhöhle, in welche der Zwerg geschlüpft war, und ließen den Hans mit seinem Stab im Korb hinab. Als Hans auf dem Grund angelangt war, fand er eine Türe, und als er sie öffnete, saß da eine bildschöne Jungfrau, nein, so schön, daß es nicht zu sagen ist, und neben ihr saß der Zwerg und grinste den Hans an wie eine Meerkatze. Sie aber war mit Ketten gebunden und blickte ihn so traurig an, daß Hans großes Mitleid empfand und dachte: Du mußt sie aus der Gewalt des bösen Zwerges erlösen, und gab ihm einen Streich mit seinem Stab, daß er tot niedersank.

Alsbald fielen die Ketten von der Jungfrau ab, und Hans war wie verzückt über ihre Schönheit. Sie erzählte ihm, sie wäre eine Königstochter, die ein wilder Graf aus ihrer Heimat geraubt und hier in den Felsen eingesperrt hätte, weil sie nichts von ihm hätte wissen wollen; den Zwerg aber hätte der Graf zum Wächter gesetzt, und er hätte ihr Leid und Drangsal genug angetan.

Darauf setzte Hans die Jungfrau in den Korb und ließ sie hinaufziehen. Der Korb kam wieder herab, aber Hans traute den beiden Gesellen nicht und dachte: Sie haben sich schon falsch gezeigt und dir nichts von dem Zwerg gesagt, wer weiß, was sie gegen dich im Schild führen. Da legte er seinen Stab in den Korb, und das war sein Glück, denn als der Korb halb in der Höhe war, ließen sie ihn fallen, und hätte Hans wirklich darin gesessen, so wäre es sein Tod gewesen. Aber nun wußte er nicht, wie er sich aus der Tiefe herausarbeiten sollte, und wie er hin und her dachte, er fand keinen Rat.

„Es ist doch traurig,“ sagte er, „daß du da unten verschmachten sollst.“ Und als er so auf und ab ging, kam er wieder zu dem Kämmerchen, wo die Jungfrau gesessen hatte, und sah, daß der Zwerg einen Ring am Finger hatte, der glänzte und schimmerte. Da zog er ihn ab und steckte ihn an, und als er ihn am Finger umdrehte, so hörte er plötzlich etwas über seinem Kopf rauschen. Er blickte in die Höhe und sah da Luftgeister schweben, die sagten, er wäre ihr Herr, und fragten, was sein Begehren wäre.

Hans war anfangs ganz verstummt, dann aber sagte er, sie sollten ihn hinauftragen. Augenblicklich gehorchten sie, und es war nicht anders, als flöge er hinauf. Als er aber oben war, so war kein Mensch mehr zu sehen, und als er in das Schloß ging, so fand er auch dort niemand. Der Tannendreher und der Felsenklipperer waren fortgeeilt und hatten die schöne Jungfrau mitgeführt. Aber Hans drehte den Ring, da kamen die Luftgeister und sagten ihm, die zwei wären auf dem Meer. Hans lief und lief in einem fort, bis er zu dem Meeresstrand kam, da erblickte er weit, weit auf dem Wasser ein Schiffchen, in welchem seine treulosen Gefährten saßen. Und im heftigen Zorn sprang er, ohne sich zu besinnen, mitsamt seinem Stab ins Wasser und fing an zu schwimmen, aber der zentnerschwere Stab zog ihn tief hinab, daß er fast ertrunken wäre.

Da drehte er noch zu rechter Zeit den Ring, alsbald kamen die Luftgeister und trugen ihn, so schnell wie der Blitz, in das Schiffchen. Da schwang er seinen Stab und gab den bösen Gesellen den verdienten Lohn und warf sie hinab ins Wasser; dann aber ruderte er mit der schönen Jungfrau, die in den größten Ängsten gewesen war und die er zum zweiten Male befreit hatte, heim zu ihrem Vater und ihrer Mutter und ward mit ihr verheiratet, und haben alle sich gewaltig gefreut.

192 Der Meisterdieb
Eines Tages saß vor einem ärmlichen Hause ein alter Mann mit seiner Frau, und wollten von der Arbeit ein wenig ausruhen. Da kam auf einmal ein prächtiger, mit vier Rappen bespannter Wagen herbeigefahren, aus dem ein reichgekleideter Herr stieg. Der Bauer stand auf, trat zu dem Herrn und fragte, was sein Verlangen wäre, und worin er ihm dienen könnte. Der Fremde reichte dem Alten die Hand und sagte: „Ich wünsche nichts als einmal ein ländliches Gericht zu genießen. Bereitet mir Kartoffel, wie Ihr sie zu essen pflegt, damit will ich mich zu Euerm Tisch setzen, und sie mit Freude verzehren.“ Der Bauer lächelte und sagte: „Ihr seid ein Graf oder Fürst, oder gar ein Herzog, vornehme Herren haben manchmal solch ein Gelüsten; Euer Wunsch soll aber erfüllt werden.“ Die Frau ging in die Küche, und sie fing an Kartoffeln zu waschen und zu reiben und wollte Klöße daraus bereiten, wie sie die Bauern essen. Während sie bei der Arbeit stand, sagte der Bauer zu dem Fremden: „Kommt einstweilen mit mir in meinen Hausgarten, wo ich noch etwas zu schaffen habe.“ In dem Garten hatte er Löcher gegraben und wollte jetzt Bäume einsetzen. „Habt Ihr keine Kinder,“ fragte der Fremde, „die Euch bei der Arbeit behilflich sein könnten?“ – „Nein,“ antwortete der Bauer; „ich habe freilich einen Sohn gehabt,“ setzte er hinzu, „aber der ist schon seit langer Zeit in die weite Welt gegangen. Es war ein ungeratener Junge, klug und verschlagen, aber er wollte nichts lernen und machte lauter böse Streiche; zuletzt lief er mir fort, und seitdem habe ich nichts von ihm gehört.“ Der Alte nahm ein Bäumchen, setzte es in ein Loch und stieß einen Pfahl daneben: und als er Erde hineingeschaufelt und sie festgestampft hatte, band er den Stamm unten, oben und in der Mitte mit einem Strohseil fest an den Pfahl. „Aber sagt mir,“ sprach der Herr, „warum bindet Ihr den krummen knorrichten Baum, der dort in der Ecke fast bis auf den Boden gebückt liegt, nicht auch an einen Pfahl wie diesen, damit er strack wächst?“ Der Alte lächelte und sagte „Herr, Ihr redet, wie Ihrs versteht: man sieht wohl, daß Ihr Euch mit der Gärtnerei nicht abgegeben habt. Der Baum dort ist alt und verknorzt, den kann niemand mehr gerad machen: Bäume muß man ziehen, solange sie jung sind.“ – „Es ist wie bei Euerm Sohn,“ sagte der Fremde, „hättet Ihr den gezogen, wie er noch jung war, so wäre er nicht fortgelaufen; jetzt wird er auch hart und knorzig geworden sein.“ – „Freilich,“ antwortete der Alte, „es ist schon lange, seit er fortgegangen ist; er wird sich verändert haben.“ – „Würdet Ihr ihn noch erkennen, wenn er vor Euch träte?“ fragte der Fremde. „Am Gesicht schwerlich,“ antwortete der Bauer, „aber er hat ein Zeichen an sich, ein Muttermal auf der Schulter, das wie eine Bohne aussieht.“ Als er dies gesagt hatte, zog der Fremde den Rock aus, entblößte seine Schulter und zeigte dem Bauer die Bohne. „Herr Gott,“ rief der Alte, „du bist wahrhaftig mein Sohn,“ und die Liebe zu seinem Kind regte sich in seinem Herzen. „Aber,“ setzte er hinzu, „wie kannst du mein Sohn sein, du bist ein großer Herr geworden und lebst in Reichtum und Überfluß! Auf welchem Weg bist du dazu gelangt?“ – „Ach, Vater,“ erwiderte der Sohn, „der junge Baum war an keinen Pfahl gebunden und ist krumm gewachsen: jetzt ist er zu alt; er wird nicht wieder gerad. Wie ich das alles erworben habe? Ich bin ein Dieb geworden. Aber erschreckt Euch nicht, ich bin ein Meisterdieb. Für mich gibt es weder Schloß noch Riegel: wonach mich gelüstet, das ist mein. Glaubt nicht, daß ich stehle wie ein gemeiner Dieb, ich nehme nur vom Überfluß der Reichen. Arme Leute sind sicher: ich gebe ihnen lieber, als daß ich ihnen etwas nehme. So auch, was ich ohne Mühe, List und Gewandtheit haben kann, das rühre ich nicht an.“ – „Ach, mein Sohn,“ sagte der Vater, „es gefällt mir doch nicht, ein Dieb bleibt ein Dieb; ich sage dir, es nimmt kein gutes Ende.“ Er führte ihn zu der Mutter, und als sie hörte, daß es ihr Sohn war, weinte sie vor Freude, als er ihr aber sagte, daß er ein Meisterdieb geworden wäre, so flossen ihr zwei Ströme über das Gesicht. Endlich sagte sie: „Wenn er auch ein Dieb geworden ist, so ist er doch mein Sohn, und meine Augen haben ihn noch einmal gesehen.“

Sie setzten sich an den Tisch, und er aß mit seinen Eltern wieder einmal die schlechte Kost, die er lange nicht gegessen hatte. Der Vater sprach: „Wenn unser Herr, der Graf drüben im Schlosse, erfährt, wer du bist und was du treibst, so nimmt er dich nicht auf die Arme und wiegt dich darin, wie er tat, als er dich am Taufstein hielt, sondern er läßt dich am Galgenstrick schaukeln.“ – „Seid ohne Sorge, mein Vater, er wird mir nichts tun, denn ich verstehe mein Handwerk. Ich will heute noch selbst zu ihm gehen.“ Als die Abendzeit sich näherte, setzte sich der Meisterdieb in seinen Wagen und fuhr nach dem Schloß. Der Graf empfing ihn mit Artigkeit, weil er ihn für einen vornehmen Mann hielt. Als aber der Fremde sich zu erkennen gab, so erbleichte er und schwieg eine Zeitlang ganz still. Endlich sprach er: „Du bist mein Pate, deshalb will ich Gnade für Recht ergehen lassen und nachsichtig mit dir verfahren. Weil du dich rühmst, ein Meisterdieb zu sein, so will ich deine Kunst auf die Probe stellen, wenn du aber nicht bestehst, so mußt du mit des Seilers Tochter Hochzeit halten, und das Gekrächze der Raben soll deine Musik dabei sein.“ – „Herr Graf,“ antwortete der Meister, „denkt Euch drei Stücke aus, so schwer Ihr wollt, und wenn ich Eure Aufgabe nicht löse, so tut mit mir, wie Euch gefällt.“ Der Graf sann einige Augenblicke nach, dann sprach er: „Wohlan, zum ersten sollst du mir mein Leibpferd aus dem Stalle stehlen, zum andern sollst du mir und meiner Gemahlin, wenn wir eingeschlafen sind, das Bettuch unter dem Leib wegnehmen, ohne daß wirs merken, und dazu meiner Gemahlin den Trauring vom Finger: zum dritten und letzten sollst du mir den Pfarrer und Küster aus der Kirche wegstehlen. Merke dir alles wohl, denn es geht dir an den Hals.“

Der Meister begab sich in die zunächst liegende Stadt. Dort kaufte er einer alten Bauerfrau die Kleider ab und zog sie an. Dann färbte er sich das Gesicht braun und malte sich noch Runzeln hinein, so daß ihn kein Mensch wiedererkannt hätte. Endlich füllte er ein Fäßchen mit altem Ungarwein, in welchen ein starker Schlaftrunk gemischt war. Das Fäßchen legte er auf eine Kötze, die er auf den Rücken nahm, und ging mit bedächtigen, schwankenden Schritten zu dem Schloß des Grafen. Es war schon dunkel, als er anlangte; er setzte sich in den Hof auf einen Stein, fing an zu husten wie eine alte brustkranke Frau und rieb die Hände, als wenn er fröre. Vor der Türe des Pferdestalls lagen Soldaten um ein Feuer; einer von ihnen bemerkte die Frau und rief ihr zu: „Komm näher, altes Mütterchen, und wärme dich bei uns. Du hast doch kein Nachtlager und nimmst es an, wo du es findest.“ Die Alte trippelte herbei, bat, ihr die Kötze vom Rücken zu heben, und setzte sich zu ihnen ans Feuer. „Was hast du da in deinem Fäßchen, du alte Schachtel?“ fragte einer. „Einen guten Schluck Wein,“ antwortete sie, „ich ernähre mich mit dem Handel, für Geld und gute Worte gebe ich Euch gerne ein Glas.“ – „Nur her damit,“ sagte der Soldat, und als er ein Glas gekostet hatte, rief er: „Wenn der Wein gut ist, so trink ich lieber ein Glas mehr,“ ließ sich nochmals einschenken, und die andern folgten seinem Beispiel. „Heda, Kameraden,“ rief einer denen zu, die in dem Stall saßen, „hier ist ein Mütterchen, das hat Wein, der so alt ist wie sie selber, nehmt auch einen Schluck, der wärmt euch den Magen noch besser als unser Feuer.“ Die Alte trug ihr Fäßchen in den Stall. Einer hatte sich auf das gesattelte Leibpferd gesetzt, ein anderer hielt den Zaum in der Hand, ein dritter hatte den Schwanz gepackt. Sie schenkte ein, soviel verlangt ward, bis die Quelle versiegte. Nicht lange, so fiel dem einen der Zaum aus der Hand, er sank nieder und fing an zu schnarchen, der andere ließ den Schwanz los, legte sich nieder und schnarchte noch lauter. Der, welcher im Sattel saß, blieb zwar sitzen, bog sich aber mit dem Kopf fast bis auf den Hals des Pferdes, schlief und blies mit dem Mund wie ein Schmiedebalg. Die Soldaten draußen waren schon längst eingeschlafen, lagen auf der Erde und regten sich nicht, als wären sie von Stein.

Als der Meisterdieb sah, daß es ihm geglückt war, gab er dem einen statt des Zaums ein Seil in die Hand und dem andern, der den Schwanz gehalten hatte, einen Strohwisch; aber was sollte er mit dem, der auf dem Rücken des Pferdes saß, anfangen? Herunterwerfen wollte er ihn nicht, er hätte erwachen und ein Geschrei erheben können. Er wußte aber guten Rat, er schnallte die Sattelgurt auf, knüpfte ein paar Seile, die in Ringen an der Wand hingen, an den Sattel fest und zog den schlafenden Reiter mit dem Sattel in die Höhe, dann schlug er die Seile um den Pfosten und machte sie fest. Das Pferd hatte er bald von der Kette losgebunden, aber wenn er über das steinerne Pflaster des Hofs geritten wäre, so hätte man den Lärm im Schloß gehört. Er umwickelte ihm also zuvor die Hufen mit alten Lappen, führte es dann vorsichtig hinaus, schwang sich auf und jagte davon.

Als der Tag angebrochen war, sprengte der Meister auf dem gestohlenen Pferd zu dem Schloß. Der Graf war eben aufgestanden und blickte aus dem Fenster. „Guten Morgen, Herr Graf,“ rief er ihm zu, „hier ist das Pferd, das ich glücklich aus dem Stall geholt habe. Schaut nur, wie schön Eure Soldaten daliegen und schlafen, und wenn Ihr in den Stall gehen wollt, so werdet Ihr sehen, wie bequem sichs Eure Wächter gemacht haben.“ Der Graf mußte lachen, dann sprach er: „Einmal ist dirs gelungen, aber das zweitemal wirds nicht so glücklich ablaufen. Und ich warne dich, wenn du mir als Dieb begegnest, so behandle ich dich auch wie einen Dieb.“ Als die Gräfin abends zu Bette gegangen war, schloß sie die Hand mit dem Trauring fest zu, und der Graf sagte: „Alle Türen sind verschlossen und verriegelt, ich bleibe wach und will den Dieb erwarten; steigt er aber zum Fenster ein, so schieße ich ihn nieder.“ Der Meisterdieb aber ging in der Dunkelheit hinaus zu dem Galgen, schnitt einen armen Sünder, der da hing, von dem Strick ab und trug ihn auf dem Rücken nach dem Schloß. Dort stellte er eine Leiter an das Schlafgemach, setzte den Toten auf seine Schultern und fing an hinaufzusteigen. Als er so hoch gekommen war, daß der Kopf des Toten in dem Fenster erschien, drückte der Graf, der in seinem Bett lauerte, eine Pistole auf ihn los: alsbald ließ der Meister den armen Sünder herabfallen, sprang selbst die Leiter herab und versteckte sich in eine Ecke. Die Nacht war von dem Mond so weit erhellt, daß der Meister deutlich sehen konnte, wie der Graf aus dem Fenster auf die Leiter stieg, herabkam und den Toten in den Garten trug. Dort fing er an ein Loch zu graben, in das er ihn legen wollte. „Jetzt,“ dachte der Dieb, ist der günstige Augenblick gekommen,“ schlich behende aus seinem Winkel und stieg die Leiter hinauf, geradezu ins Schlafgemach der Gräfin. „Liebe Frau,“ fing er mit der Stimme des Grafen an, „der Dieb ist tot, aber er ist doch mein Pate und mehr ein Schelm als ein Bösewicht gewesen: ich will ihn der öffentlichen Schande nicht preisgeben; auch mit den armen Eltern habe ich Mitleid. Ich will ihn, bevor der Tag anbricht, selbst im Garten begraben, damit die Sache nicht ruchbar wird. Gib mir auch das Bettuch, so will ich die Leiche einhüllen und ihn wie einen Hund verscharren.“ Die Gräfin gab ihm das Tuch. „Weißt du was,“ sagte der Dieb weiter, „ich habe eine Anwandlung von Großmut, gib mir noch den Ring; der Unglückliche hat sein Leben gewagt, so mag er ihn ins Grab mitnehmen.“ Sie wollte dem Grafen nicht entgegen sein, und obgleich sie es ungern tat, so zog sie doch den Ring vom Finger und reichte ihn hin. Der Dieb machte sich mit beiden Stücken fort und kam glücklich nach Haus, bevor der Graf im Garten mit seiner Totengräberarbeit fertig war.

Was zog der Graf für ein langes Gesicht, als am andern Morgen der Meister kam und ihm das Bettuch und den Ring brachte. „Kannst du hexen?“ sagte er zu ihm, „wer hat dich aus dem Grab geholt, in das ich selbst dich gelegt habe, und hat dich wieder lebendig gemacht?“ – „Mich habt Ihr nicht begraben,“ sagte der Dieb, „sondern den armen Sünder am Galgen,“ und erzählte ausführlich, wie es zugegangen war; und der Graf mußte ihm zugestehen, daß er ein gescheiter und listiger Dieb wäre. „Aber noch bist du nicht zu Ende,“ setzte er hinzu, „du hast noch die dritte Aufgabe zu lösen, und wenn dir das nicht gelingt, so hilft dir alles nichts.“ Der Meister lächelte und gab keine Antwort.

Als die Nacht eingebrochen war, kam er mit einem langen Sack auf dem Rücken, einem Bündel unter dem Arm und einer Laterne in der Hand zu der Dorfkirche gegangen. In dem Sack hatte er Krebse, in dem Bündel aber kurze Wachslichter. Er setzte sich auf den Gottesacker, holte einen Krebs heraus und klebte ihm ein Wachslichtchen auf den Rücken, dann zündete er das Lichtchen an, setzte den Krebs auf den Boden und ließ ihn kriechen. Er holte einen zweiten aus dem Sack, machte es mit diesem ebenso und fuhr fort, bis auch der letzte aus dem Sacke war. Hierauf zog er ein langes schwarzes Gewand an, das wie eine Mönchskutte aussah, und klebte sich einen grauen Bart an das Kinn. Als er endlich ganz unkenntlich war, nahm er den Sack, in dem die Krebse gewesen waren, ging in die Kirche und stieg auf die Kanzel. Die Turmuhr schlug eben zwölf: als der letzte Schlag verklungen war, rief er mit lauter gellender Stimme: „Hört an, ihr sündigen Menschen, das Ende aller Dinge ist gekommen, der jüngste Tag ist nahe: hört an, hört an. Wer mit mir in den Himmel will, der krieche in den Sack. Ich bin Petrus, der die Himmelstüre öffnet und schließt. Seht ihr, draußen auf dem Gottesacker wandeln die Gestorbenen und sammeln ihre Gebeine zusammen. Kommt, kommt und kriecht in den Sack, die Welt geht unter.“ Das Geschrei erschallte durch das ganze Dorf. Der Pfarrer und der Küster, die zunächst an der Kirche wohnten, hatten es zuerst vernommen, und als sie die Lichter erblickten, die auf dem Gottesacker umherwandelten, merkten sie, daß etwas Ungewöhnliches vorging, und traten sie in die Kirche ein. Sie hörten der Predigt eine Weile zu, da stieß der Küster den Pfarrer an und sprach: „Es wäre nicht übel, wenn wir die Gelegenheit benutzten und zusammen vor dem Einbruch des jüngsten Tags auf eine leichte Art in den Himmel kämen.“ – „Freilich,“ erwiderte der Pfarrer, „das sind auch meine Gedanken gewesen: habt Ihr Lust, so wollen wir uns auf den Weg machen.“ – „Ja,“ antwortete der Küster, „aber Ihr, Herr Pfarrer, habt den Vortritt, ich folge nach.“ Der Pfarrer schritt also vor und stieg auf die Kanzel, wo der Meister den Sack öffnete. Der Pfarrer kroch zuerst hinein, dann der Küster. Gleich band der Meister den Sack fest zu, packte ihn am Bausch und schleifte ihn die Kanzeltreppe hinab: sooft die Köpfe der beiden Toren auf die Stufen aufschlugen, rief er: „Jetzt gehts schon über die Berge.“ Dann zog er sie auf gleiche Weise durch das Dorf, und wenn sie durch Pfützen kamen, rief er: „Jetzt gehts schon durch die nassen Wolken,“ und als er sie endlich die Schloßtreppe hinaufzog, so rief er: „Jetzt sind wir auf der Himmelstreppe und werden bald im Vorhof sein.“ Als er oben angelangt war, schob er den Sack in den Taubenschlag, und als die Tauben flatterten, sagte er: „Hört ihr, wie die Engel sich freuen und mit den Fittichen schlagen?“ Dann schob er den Riegel vor und ging fort.

Am andern Morgen begab er sich zu dem Grafen und sagte ihm, daß er auch die dritte Aufgabe gelöst und den Pfarrer und Küster aus der Kirche weggeführt hätte. „Wo hast du sie gelassen?“ fragte der Herr. „Sie liegen in einem Sack oben auf dem Taubenschlag und bilden sich ein, sie wären im Himmel.“ Der Graf stieg selbst hinauf und überzeugte sich, daß er die Wahrheit gesagt hatte. Als er den Pfarrer und Küster aus dem Gefängnis befreit hatte, sprach er: „Du bist ein Erzdieb und hast deine Sache gewonnen. Für diesmal kommst du mit heiler Haut davon, aber mache, daß du aus meinem Land fortkommst, denn wenn du dich wieder darin betreten läßt, so kannst du auf deine Erhöhung am Galgen rechnen.“ Der Erzdieb nahm Abschied von seinen Eltern, ging wieder in die weite Welt, und niemand hat wieder etwas von ihm gehört.

149 Der Hahnenbalken

Es war einmal ein Zauberer, der stand mitten in einer großen Menge Volks und vollbrachte seine Wunderdinge. Da ließ er auch einen Hahn einherschreiten, der hob einen schweren Balken und trug ihn, als wäre er federleicht. Nun war aber ein Mädchen, das hatte eben ein vierblättriges Kleeblatt gefunden und war dadurch klug geworden, so daß kein Blendwerk vor ihm bestehen konnte, und sah, daß der Balken nichts war als ein Strohhalm. Da rief es ‚ihr Leute, seht ihr nicht, das ist ein bloßer Strohhalm und kein Balken, was der Hahn da trägt.‘ Alsbald verschwand der Zauber, und die Leute sahen, was es war, und jagten den Hexenmeister mit Schimpf und Schande fort. Er aber, voll innerlichen Zornes, sprach ‚ich will mich schon rächen.‘ Nach einiger Zeit hielt das Mädchen Hochzeit, war geputzt und ging in einem großen Zug über das Feld nach dem Ort, wo die Kirche stand. Auf einmal kamen sie an einen stark angeschwollenen Bach, und war keine Brücke und kein Steg, darüber zu gehen. Da war die Braut flink, hob ihre Kleider auf und wollte durchwaten. Wie sie nun eben im Wasser so steht, ruft ein Mann, und das war der Zauberer, neben ihr ganz spöttisch ‚ei! wo hast du deine Augen, daß du das für ein Wasser hältst?, Da gingen ihr die Augen auf, und sie sah, daß sie mit ihren aufgehobenen Kleidern mitten in einem blaublühenden Flachsfeld stand. Da sahen es die Leute auch allesamt und jagten sie mit Schimpf und Gelächter fort.

150 Die alte Bettelfrau

Es war einmal eine alte Frau, du hast wohl ehe eine alte Frau sehn betteln gehn? diese Frau bettelte auch, und wann sie etwas bekam, dann sagte sie ‚Gott lohn Euch.‘ Die Bettelfrau kam an die Tür, da stand ein freundlicher Schelm von Jungen am Feuer und wärmte sich. Der Junge sagte freundlich zu der armen alten Frau, wie sie so an der Tür stand und zitterte ‚kommt, Altmutter, und erwärmt Euch.‘ Sie kam herzu, ging aber zu nahe ans Feuer stehn, daß ihre alten Lumpen anfingen zu brennen, und sie wards nicht gewahr. Der Junge stand und sah das, er hätts doch löschen sollen? Nicht wahr, er hätte löschen sollen? Und wenn er kein Wasser gehabt hätte, dann hätte er alles Wasser in seinem Leibe zu den Augen herausweinen sollen, das hätte so zwei hübsche Bächlein gegeben zu löschen.

145 Der undankbare Sohn
Es saß einmal ein Mann mit seiner Frau vor der Haustür, und sie hatten ein gebraten Huhn vor sich stehen und wollten das zusammen verzehren. Da sah der Mann, wie sein alter Vater daherkam, geschwind nahm er das Huhn und versteckte es, weil er ihm nichts davon gönnte. Der Alte kam, tat einen Trunk und ging fort. Nun wollte der Sohn das gebratene Huhn wieder auf den Tisch tragen, aber als er danach griff, war es eine große Kröte geworden, die sprang ihm ins Angesicht und saß da, und ging nicht wieder weg; und wenn sie jemand wegtun wollte, sah sie ihn giftig an, als wollte sie ihm ins Angesicht springen, so daß keiner sie anzurühren getraute. Und die Kröte mußte der undankbare Sohn alle Tage füttern, sonst fraß sie ihm aus seinem Angesicht; und also ging er ohne Ruhe in der Welt hin und her.

154 Der gestohlene Heller

Es saß einmal ein Vater mit seiner Frau und seinen Kindern mittags am Tisch, und ein guter Freund, der zum Besuch gekommen war, aß mit ihnen. Und wie sie so saßen, und es zwölf Uhr schlug, da sah der Fremde die Tür aufgehen und ein schneeweiß gekleidetes, ganz blasses Kindlein hereinkommen. Es blickte sich nicht um und sprach auch nichts, sondern ging geradezu in die Kammer nebenan. Bald darauf kam es zurück und ging ebenso still wieder zur Türe hinaus. Am zweiten und dritten Tag kam es auf ebendiese Weise. Da fragte endlich der Fremde den Vater, wem das schöne Kind gehörte, das alle Mittag in die Kammer ginge. ‚Ich habe es nicht gesehen,‘ antwortete er, ‚und wüßte auch nicht, wem es gehören könnte.‘ Am andern Tage, wie es wiederkam, zeigte es der Fremde dem Vater, der sah es aber nicht, und die Mutter und die Kinder alle sahen auch nichts. Nun stand der Fremde auf, ging zur Kammertüre, öffnete sie ein wenig und schaute hinein. Da sah er das Kind auf der Erde sitzen und emsig mit den Fingern in den Dielenritzen graben und wühlen; wie es aber den Fremden bemerkte, verschwand es. Nun erzählte er, was er gesehen hatte, und beschrieb das Kind genau, da erkannte es die Mutter und sagte ‚ach, das ist mein liebes Kind, das vor vier Wochen gestorben ist.‘ Sie brachen die Dielen auf und fanden zwei Heller, die hatte einmal das Kind von der Mutter erhalten, um sie einem armen Manne zu geben, es hatte aber gedacht ‚dafür kannst du dir einen Zwieback kaufen,‘ die Heller behalten und in die Dielenritzen versteckt; und da hatte es im Grabe keine Ruhe gehabt, und war alle Mittage gekommen, um nach den Hellern zu suchen. Die Eltern gaben darauf das Geld einem Armen, und nachher ist das Kind nicht wieder gesehen worden.

196 Oll Rinkrank
Es war einmal ein König, und der hatte eine Tochter; der hatte er einen gläsernem Berg machen lassen und hatte gesagt: Wer darüber laufen könne, ohne zu fallen, der sollte seine Tochter zur Frau haben. Nun war da auch einer, der mochte die Königstochter von Herzen gern leiden. Der fragte den König, ob er seine Tochter nicht haben könnte? „Ja,“ sagte der König; wenn er über den Berg laufen könnte, ohne zu fallen, dann könnte er sie haben. Da sagte die Königstochter, sie wollte mit ihm hinüberlaufen und ihn halten, wenn er fallen sollte. Da lief sie nun mit ihm hinüber; wie sie aber mitten drauf waren, glitt die Königstochter aus und fiel, und der Glasberg öffnete sich, und sie stürzte da hinein, und der Bräutigam konnte nicht sehen, wo sie geblieben war; denn der Berg hatte sich gleich wieder geschlossen. Da jammerte und weinte er so sehr; und der König war auch so sehr traurig und ließ den Berg wieder wegbrechen und meinte, er könnte sie wieder herauskriegen; aber sie konnten die Stelle nicht finden, wo sie hinuntergefallen war.

Unterdessen war die Königstochter ganz tief auf den Grund in eine große Höhle gekommen. Da kam ihr so ein alter Kerl mit einem ganz langen grauen Bart entgegen; und er sagte, wenn sie seine Magd werden wollte und alles täte, was er ihr befehle, dann sollte sie am Leben bleiben; sonst würde er sie umbringen. Da tat sie alles, was er ihr sagte. Am Morgen nahm er seine Leiter aus der Tasche, legte sie an den Berg und stieg damit aus dem Berg heraus; und dann zog er die Leiter oben zu sich herauf. Und dann mußte sie sein Essen kochen und sein Bett machen und alle Arbeit tun; und dann, wenn er wieder nach Hause kam, brachte er immer einen Haufen Gold und Silber mit.

Als sie viel Jahre bei ihm gewesen und ganz alt geworden war, da nannte er sie ‚Frau Mansrot‘, und sie mußte ihn ‚Oll Rinkrank‘ nennen. Als er wieder einmal hinaus war, da machte sie ihm sein Bett und wusch seine Schüsseln. Und dann machte sie die Türen und Fenster alle dicht zu, und da war nur ein Schiebefenster, wo Licht hineinschien; das ließ sie offen. Als der alte Rinkrank nun wiederkam, da klopfte er an die Tür und rief: „Fro Mansrot, mach mir die Türe auf!“

„Nein,“ sagte sie, „ich tu‘ dir, oll Rinkrank, die Türe nicht auf.“ Da sagte er:

„Hir sta ik arme Rinkrank
up min söventein Benen lank,
up min en vergüllen Vot (vergoldeten Fuß),
Fro Mansrot, wask mi d’Schöttels!“

„Ich habe deine Schüsseln schon gewaschen!“ sagte sie. Da sagte er wieder:

„Hir sta ik arme Rinkrank
up min söventein Benen lank,
up min en vergüllen Vot,
Fro Mansrot, mak mi’t Bedd!“

„Ich habe dein Bett schon gemacht,“ sagte sie. Da sagte er wieder:

„Hir sta ik arme Rinkrank
up min söventein Benen lank,
up min en vergüllen Vot,
Fro Mansrot, do mi d’Dör apen!“

Da lief er rund um sein Haus und sah, daß die kleine Luke offen war; da dachte er: „Du mußt doch einmal nachgucken, was sie da wohl macht und warum sie die Tür nicht aufmachen will.“ Da will er nun durch die Luke hindurchgucken und kann den Kopf nicht durchkriegen wegen seinem langen Bart. Da steckt er seinen Bart erst durch die Luke, und als er ihn da hindurch gesteckt hatte, da kam die Frau Mannsrot herbei und zog die Luke grade mit einem Band zu, das sie daran gebunden hatte, und so blieb der Bart fest darin sitzen. Da fing er jämmerlich an zu schreien, das täte ihm so weh. Und da bat er sie, sie möchte ihn doch wieder loslassen. Da sagte sie: Eher nicht, als bis er ihr die Leiter gäbe, mit der er zum Berg heraussteige. Da mochte er nun wollen oder nicht, er mußte ihr sagen, wo die Leiter wäre. Da band sie ein ganz langes Band an das Schiebefenster, und dann legte sie die Leiter an und stieg aus dem Berg heraus; und wie sie oben ist, da zieht sie das Schiebefenster auf. Dann ging sie zu ihrem Vater und erzählte ihm, wie es ihr ergangen war. Da freute sich der König sehr, und ihr Bräutigam lebte auch noch. Und nun gingen sie hin und gruben den Berg auf und fanden den alten Rinkrank mit all seinem Gold und Silber darin. Da ließ der König den alten Rinkrank totmachen, und sein Gold und Silber nahm er mit sich, fort. Die Königstochter aber kriegte noch den früheren Bräutigam zum Mann, und sie lebten vergnügt und herrlich und in Freuden.

160 Rätselmärchen

Drei Frauen waren in Blumen verwandelt, die auf dem Felde standen, doch deren eine durfte des Nachts in ihrem Hause sein. Da sprach sie auf eine Zeit zu ihrem Mann, als sich der Tag nahte und sie wiederum zu ihren Gespielen auf das Feld gehen und eine Blume werden mußte: „Wenn du heute vormittag kommst und mich abbrichst, werde ich erlöst und für immer bei dir bleiben,“ was dann auch geschah. Nun ist die Frage, wie sie ihr Mann erkannt habe, da die Blumen ganz gleich und ohne Unterschied waren?

Antwort: „Dieweil sie die Nacht in ihrem Haus und nicht auf dem Feld war, fiel der Tau nicht auf sie wie auf die andern zwei, wobei sie der Mann erkannte.“

159 Das Dietmarsische Lügenmärchen

Ich will euch etwas erzählen. Ich sah zwei gebratene Hühner fliegen, flogen schnell und hatten die Bäuche gen Himmel gekehrt, die Rücken nach der Hölle, und ein Amboß und ein Mühlstein schwammen über den Rhein, fein langsam und leise, und ein Frosch saß und fraß eine Pflugschar zu Pfingsten auf dem Eis. Da waren drei Kerle, wollten einen Hasen fangen, gingen auf Krücken und Stelzen, der eine war taub, der zweite blind, der dritte stumm und der vierte konnte keinen Fuß rühren. Wollt ihr wissen, wie das geschah? Der Blinde, der sah zuerst den Hasen über Feld traben, der Stumme rief dem Lahmen zu, und der Lahme faßte ihn beim Kragen. Etliche, die wollten zu Land segeln und spannten die Segel im Wind und schifften über große Äcker hin: da segelten sie über einen hohen Berg, da mußten sie elendig ersaufen. Ein Krebs jagte einen Hasen in die Flucht, und hoch auf dem Dach lag eine Kuh, die war hinaufgestiegen. In dem Lande sind die Fliegen so groß als hier die Ziegen. Mache das Fenster auf, damit die Lügen hinausfliegen.

158 Das Märchen vom Schlaraffenland

In der Schlauraffenzeit, da ging ich und sah, an einem kleinen Seidenfaden hing Rom und der Lateran, und ein fußloser Mann, der überlief ein schnelles Pferd, und ein bitterscharfes Schwert, das durchhieb eine Brücke. Da sah ich einen jungen Esel mit einer silbernen Nase, der jagte hinter zwei schnellen Hasen her, und eine Linde, die war breit, auf der wuchsen heiße Fladen. Da sah ich eine alte dürre Geiß, trug wohl hundert Fuder Schmalzes an ihrem Leibe und sechzig Fuder Salzes. Ist das nicht gelogen genug? Da sah ich zackern einen Pflug ohne Roß und Rinder, und ein jähriges Kind warf vier Mühlensteine von Regensburg bis nach Trier und von Trier hinein in Straßburg, und ein Habicht schwamm über den Rhein: das tat er mit vollem Recht. Da hört ich Fische miteinander Lärm anfangen, daß es in den Himmel hinaufscholl, und ein süßer Honig floß wie Wasser voll einem tiefen Tal auf einen hohen Berg; das waren seltsame Geschichten. Da waren zwei Krähen, mähten eine Wiese, und ich sah zwei Mücken an einer Brücke bauen, und zwei Tauben zerrupften einen Wolf, zwei Kinder, die wurfen zwei Zicklein, aber zwei Frösche droschen miteinander Getreid aus. Da sah ich zwei Mäuse einen Bischof weihen, zwei Katzen, die einem Bären die Zunge auskratzten. Da kam eine Schnecke gerannt und erschlug zwei wilde Löwen. Da stand ein Bartscherer, schor einer Frauen ihren Bart ab, und zwei säugende Kinder hießen ihre Mutter stillschweigen. Da sah ich zwei Windhunde, brachten eine Mühle aus dem Wasser getragen, und eine alte Schindmähre stand dabei, die sprach, es wäre recht. Und im Hof standen vier Rosse, die droschen Korn aus allen Kräften, und zwei Ziegen, die den Ofen heizten, und eine rote Kuh schoß das Brot in den Ofen. Da krähte ein Huhn ‚kikeriki, das Märchen ist auserzählt, kikeriki.‘

Von dem Sommer- und Wintergarten.

Ein Kaufmann wollte auf die Messe gehen, da fragte er seine drei Töchter, was er ihnen mitbringen sollte. Die älteste sprach: „ein schönes Kleid;“ die zweite: „ein paar hübsche Schuhe;“ die dritte: „eine Rose.“ Aber die Rose zu verschaffen, war etwas schweres, weil es mitten im Winter war, doch weil die jüngste die schönste war, und sie eine so große Freude an den Blumen hatte, sagte der Vater, er wolle zusehen, ob er sie bekommen könne, und sich rechte Mühe darum geben.

Als der Kaufmann wieder auf der Rückreise war, hatte er ein prächtiges Kleid für die älteste, und ein paar schöne Schuhe für die zweite, aber die Rose für die dritte hatte er nicht bekommen können, wenn er in einen Garten gegangen war, und nach Rosen gefragt, hatten die Leute ihn ausgelacht: „ob er denn glaube, daß die Rosen im Schnee wüchsen.“ Das war ihm aber gar leid, und wie er darüber sann, ob er gar nichts für sein liebstes Kind mitbringen könne, kam er vor ein Schloß, und dabei war ein Garten, in dem war es halb Sommer und halb Winter, und auf der einen Seite blühten die schönsten Blumen groß und klein, und auf der andern war alles kahl und lag ein tiefer Schnee. Der Mann stieg vom Pferd herab, und wie er einen ganze Hecke voll Rosen auf der Sommerseite erblickte, war er froh, ging hinzu und brach eine ab, dann ritt er wieder fort. Er war schon ein Stück Wegs geritten, da hörte er etwas hinter sich herlaufen und schnaufen, er drehte sich um, und sah ein großes schwarzes Tier, das rief: „du gibst mir meine Rose wieder, oder ich mache dich tod, du gibst mir meine Rose wieder, oder ich mach dich tot!“ da sprach der Mann: „ich bitt dich, laß mir die Rose, ich soll sie meiner Tochter mitbringen, die ist die schönste auf der Welt.“ – „Meinetwegen, aber gib mir die schöne Tochter dafür zur Frau?“ Der Mann, um das Tier los zu werden, sagt ja, und denkt, das wird doch nicht kommen und sie fordern, das Tier aber rief noch hinter ihm drein: „in acht Tagen komm ich und hol meine Braut.“

Der Kaufmann brachte nun einer jeden Tochter mit, was sie gewünscht hatten; sie freuten sich auch alle darüber, am meisten aber die jüngste über die Rose. Nach acht Tagen saßen die drei Schwestern beisammen am Tisch, da kam etwas mit schwerem Gang die Treppe herauf, und an die Türe und rief: „macht auf! macht auf!“ Da machten sie auf, aber sie erschraken recht, als ein großes schwarzes Tier hereintrat: „Weil meine Braut nicht gekommen, und die Zeit herum ist, will ich mir sie selber holen.“ Damit ging es auf die jüngste Tochter zu und packte sie an. Sie fing an zu schreien, das half aber alles nichts, sie mußte mit fort, und als der Vater nach Haus kam, war sein liebstes Kind geraubt. Das schwarze Tier aber trug die schöne Jungfrau in sein Schloß, da war’s gar wunderbar und schön, und Musikanten waren darin, die spielten auf, und unten war der Garten halb Sommer und halb Winter, und das Tier tat ihr alles zu Liebe, was es ihr nur an den Augen absehen konnte. Sie aßen zusammen, und sie mußte ihm aufschöpfen, sonst wollte es nicht essen, da ward sie dem Tier hold, und endlich hatte sie es recht lieb. Einmal sagte sie zu ihm: „mir ist so Angst, ich weiß nicht recht warum, aber mir ist, als wär mein Vater krank, oder eine von meinen Schwestern, könnte ich sie nur ein einzigesmal sehen!“ Da führte sie das Tier zu einem Spiegel und sagte: „da schau hinein,“ und wie sie hineinschaute, war es recht als wäre sie zu Haus; sie sah ihre Stube und ihren Vater, der war wirklich krank, aus Herzeleid, weil er sich Schuld gab, daß sein liebstes Kind von einem wilden Tier geraubt und gar von ihm aufgefressen sey, hätt’ er gewußt, wie gut es ihm ging, so hätte er sich nicht betrübt; auch ihre zwei Schwestern sah sie am Bett sitzen, die weinten. Von dem allen war ihr Herz ganz schwer, und sie bat das Tier, es sollte sie nur ein paar Tage wieder heim gehen lassen. Das Tier wollte lange nicht, endlich aber, wie sie so jammerte, hatte es Mitleiden mit ihr und sagte: „geh hin zu deinem Vater, aber versprich mir, daß du in acht Tagen wieder da sein willst.“ Sie versprach es ihm, und als sie fort ging, rief es noch: „bleib aber ja nicht länger als acht Tage aus.“

Wie sie heim kam, freute sich ihr Vater, daß er sie noch einmal sähe, aber die Krankheit und das Leid hatten schon zu sehr an seinem Herzen gefressen, daß er nicht wieder gesund werden konnte, und nach ein paar Tagen starb er. Da konnte sie an nichts anders denken vor Traurigkeit, und hernach ward ihr Vater begraben, da ging sie mit zur Leiche, und dann weinten die Schwestern zusammen und trösteten sich, und als sie endlich wieder an ihr liebes Tier dachte, da waren schon längst die acht Tage herum. Da ward ihr recht Angst, und es war ihr, als sei das auch krank, und sie machte sich gleich auf, und ging wieder hin zu seinem Schloß. Wie sie aber wieder ankam, war’s ganz still und traurig darin, die Musikanten spielten nicht, und alles war mit schwarzem Flor behangen; der Garten aber war ganz Winter und von Schnee bedeckt. Und wie sie das Tier selber suchte, war es fort, und sie suchte aller Orten, aber sie konnte es nicht finden. Da war sie doppelt traurig, und wußte sich nicht zu trösten, und einmal ging sie so traurig im Garten, und sah einen Haufen Kohlhäupter, die waren oben schon alt und faul, da legte sie die herum, und wie sie ein paar umgedreht hatte, sah sie ihr liebes Tier, das lag darunter und war tot. Geschwind holte sie Wasser und begoß es damit unaufhörlich, da sprang es auf und war auf einmal verwandelt, und ein schöner Prinz. Da ward Hochzeit gehalten und die Musikanten spielten gleich wieder, die Sommerseite im Garten kam prächtig hervor, und der schwarze Flor ward abgerissen, und sie lebten vergnügt miteinander immerdar.

Prinz Schwan.

Es war ein Mädchen mitten in einem großen Wald, da kam ein Schwan auf es zugegangen, der hatte einen Knäul Garn, und sprach zu ihm: „ich bin kein Schwan, sondern ein verzauberter Prinz, aber du kannst mich erlösen, wenn du den Knäul Garn abwickelst, an dem ich fortfliege; doch hüte dich, daß du den Faden nicht entzwei brichst, sonst komm’ ich nicht bis in mein Königreich, und werde nicht erlöst; wickelst du aber den Knäul ganz ab, dann bist du meine Braut.“ Das Mädchen nahm den Knäul, und der Schwan stieg auf in die Luft, und das Garn wickelte sich leichtlich ab. Es wickelte und wickelte den ganzen Tag, und am Abend war schon das Ende des Fadens zu sehen, da blieb er unglücklicherweise an einem Dornstrauch hängen und brach ab. Das Mädchen war sehr betrübt und weinte, es wollt’ auch Nacht werden, der Wind ging so laut in dem Wald, daß ihm Angst ward, und es anfing zu laufen, was es nur konnte. Und als es lang gelaufen war, sah es ein kleines Licht, darauf eilte es zu, und fand ein Haus und klopfte an. Ein altes Mütterchen kam heraus, das verwunderte sich, wie es sah, daß ein Mädchen vor der Türe war: „ei mein Kind, wo kommst du so spät her?“ – „Gebt mir doch heut Nacht eine Herberge, sprach es, ich habe mich in dem Wald verirrt; auch ein wenig Brot zu essen.“ – „Das ist ein schweres Ding, sagte die Alte ich gäbe dir’s gern, aber mein Mann ist ein Menschenfresser, wenn der dich findet, so frißt er dich auf, da ist keine Gnade; doch, wenn du draußen bleibst, fressen dich die wilden Tiere, ich will sehen, ob ich dir durchhelfen kann.“ Da ließ sie es herein, und gab ihm ein wenig Brot zu essen, und versteckte es dann unter das Bett. Der Menschenfresser aber kam allemal vor Mitternacht, wenn die Sonne ganz untergegangen ist, nach Haus, und ging Morgens, ehe sie aufsteigt, wieder fort. Es dauerte nicht lang, so kam er herein: „ich wittre, ich wittre Menschenfleisch!“ sprach er und suchte in der Stube, endlich griff er auch unter das Bett und zog das Mädchen hervor: „das ist noch ein guter Bissen!“ Die Frau aber bat und bat, bis er versprach, die Nacht über es noch leben zu lassen, und morgen erst zum Frühstück zu essen. Vor Sonnenaufgang aber weckte die Alte das Mädchen: „eil dich, daß du fortkommst, eh mein Mann aufwacht, da schenk ich dir ein goldenes Spinnrädchen, das halt in Ehren: ich heiße Sonne.“ Das Mädchen ging fort und kam Abends an ein Haus, da war alles, wie am vorigen Abend, und die zweite Alte gab ihm beim Abschied eine goldene Spindel und sprach: „ich heiße Mond.“ Und am dritten Abend kam es an ein drittes Haus, da schenkte ihm die Alte einen goldenen Haspel und sagte: „ich heiße Stern, und der Prinz Schwan, ob gleich der Faden noch nicht ganz abgewickelt war, war doch schon so weit, daß er in sein Reich gelangen konnte, dort ist er König und hat sich schon verheiratet, und wohnt in großer Herrlichkeit auf dem Glasberg; du wirst heut Abend hinkommen, aber ein Drache und ein Löwe liegen davor und bewahren ihn, darum nimm das Brot und den Speck und besänftige sie damit.“ So geschah es auch. Das Mädchen warf den Ungeheuern das Brod und den Speck in den Rachen, da ließen sie es durch, und es kam bis an das Schloßthor, aber in das Schloß selber ließen es die Wächter nicht hinein. Da setzte es sich vor das Thor, und fing an auf seinem goldenen Rädchen zu spinnen; die Königin sah von oben zu, ihr gefiel das schöne Rädchen, und sie kam herunter und wollte es haben. Das Mädchen sagte, sie solle es haben, wenn sie erlauben wollte, daß es eine Nacht neben dem Schlafzimmer des Königs zubrächte. Die Königin sagte es zu, und das Mädchen ward hinaufgeführt, was aber in der Stube gesprochen wurde, das konnte man alles in dem Schlafzimmer hören. Wie es nun Nacht ward, und der König im Bett lag, sang es:

Denkt der König Schwan
noch an seine versprochene Braut Julian’?
die ist gegangen durch Sonne, Mond und Stern,
durch Löwen und durch Drachen:
will der König Schwan denn gar nicht erwachen?“

Aber der König hörte es nicht, denn die listige Königin hatte sich vor dem Mädchen gefürchtet, und ihm einen Schlaftrunk gegeben, da schlief er so fest, und hätte das Mädchen nicht gehört, und wenn es vor ihm gestanden wäre. Am Morgen war alles verloren, und es mußte wieder vor das Thor, da setzte es sich hin und spann mit seiner Spindel, die gefiel der Königin auch, und es gab sie unter derselben Bedingung weg, daß es eine Nacht neben des Königs Schlafzimmer zubringen dürfe. Da sang es wieder:

Denkt der König Schwan,
nicht an seine versprochene Braut Julian’?
die ist gegangen durch Sonne, Mond und Stern,

durch Löwen und durch Drachen:
will der König Schwan denn gar nicht erwachen?“

Der König aber schlief wieder fest von einem Schlaftrunk, und das Mädchen hatte auch seine Spindel verloren. Da setzte es sich am dritten Morgen mit seinem goldenen Haspel vor das Thor und haspelte. Die Königin wollte auch die Kostbarkeit haben, und versprach dem Mädchen, es sollte dafür noch eine Nacht neben dem Schlafzimmer bleiben. Es hatte aber den Betrug gemerkt, und bat den Diener des Königs, er mögte diesem heut Abend was anderes zu trinken geben. Da sang es noch einmal:

Denkt der König Schwan
nicht an seine versprochene Braut Julian’?
die ist gegangen durch Sonne, Mond und Stern,
durch Löwen und durch Drachen:
will der König Schwan, denn gar nicht erwachen?“

Da erwachte der König; wie er ihre Stimme hörte, erkannte sie und fragte die Königin: „wenn man einen Schlüssel verloren hat und ihn wieder findet, behält man dann den alten oder den neugemachten?“ Die Königin sagte: „ganz gewiß den alten.“ – „Nun, dann kannst du meine Gemahlin nicht länger sein, ich habe meine erste Braut wieder gefunden.“ Da mußte am andern Morgen die Königin zu ihrem Vater wieder heimgehen, und der König vermählte sich mit seiner rechten Braut, und die lebten so lang vergnügt, bis sie gestorben sind.

76 Die Nelke

Es war eine Königin, die hatte unser Herrgott verschlossen, daß sie keine Kinder gebar. Da ging sie alle Morgen in den Garten und bat zu Gott im Himmel, er möchte ihr einen Sohn oder eine Tochter bescheren. Da kam ein Engel vom Himmel und sprach ‚gib dich zufrieden, du sollst einen Sohn haben mit wünschlichen Gedanken, denn was er sich wünscht auf der Welt, das wird er erhalten.‘ Sie ging zum König und sagte ihm die fröhliche Botschaft, und als die Zeit herum war, gebar sie einen Sohn, und der König war in großer Freude.

Nun ging sie alle Morgen mit dem Kind in den Tiergarten, und wusch sich da bei einem klaren Brunnen. Es geschah einstmals, als das Kind schon ein wenig älter war, daß es ihr auf dem Schoß lag und sie entschlief. Da kam der alte Koch, der wußte, daß das Kind wünschliche Gedanken hatte, und raubte es, und nahm ein Huhn und zerriß es, und tropfte ihr das Blut auf die Schürze und das Kleid. Da trug er das Kind fort an einen verborgenen Ort, wo es eine Amme tränken mußte, und lief zum König und klagte die Königin an, sie habe ihr Kind von den wilden Tieren rauben lassen. Und als der König das Blut an der Schürze sah, glaubte er es und geriet in einen solchen Zorn, daß er einen tiefen Turm bauen ließ, in den weder Sonne noch Mond schien, und ließ seine Gemahlin hineinsetzen und vermauern; da sollte sie sieben Jahre sitzen, ohne Essen und Trinken, und sollte verschmachten. Aber Gott schickte zwei Engel vom Himmel in Gestalt von weißen Tauben, die mußten täglich zweimal zu ihr fliegen und ihr das Essen bringen, bis die sieben Jahre herum waren.

Der Koch aber dachte bei sich ‚hat das Kind wünschliche Gedanken und ich bin hier, so könnte es mich leicht ins Unglück stürzen.‘ Da machte er sich vom Schloß weg und ging zu dem Knaben, der war schon so groß, daß er sprechen konnte, und sagte zu ihm ‚wünsche dir ein schönes Schloß mit einem Garten, und was dazu gehört.‘ Und kaum waren die Worte aus dem Munde des Knaben, so stand alles da, was er gewünscht hatte. Ober eine Zeit sprach der Koch zu ihm es ist nicht gut, daß du so allein bist, wünsche dir eine schöne Jungfrau zur Gesellschaft.‘ Da wünschte sie der Königssohn herbei, und sie stand gleich vor ihm, und war so schön, wie sie kein Maler malen konnte. Nun spielten die beiden zusammen und hatten sich von Herzen lieb, und der alte Koch ging auf die Jagd wie ein vornehmer Mann. Es kam ihm aber der Gedanke, der Königssohn könnte einmal wünschen, bei seinem Vater zu sein, und ihn damit in große Not bringen. Da ging er hinaus, nahm das Mädchen beiseit und sprach ‚diese Nacht, wenn der Knabe schläft, so geh an sein Bett und stoß ihm das Messer ins Herz, und bring mir Herz und Zunge von ihm; und wenn du das nicht tust, so sollst du dein Leben verlieren.‘ Darauf ging er fort, und als er am andern Tag wiederkam, so hatte sie es nicht getan und sprach ‚was soll ich ein unschuldiges Blut ums Leben bringen, das noch niemand beleidigt hat?‘ Sprach der Koch wieder ‚wo du es nicht tust, so kostet dichs selbst dein Leben.‘ Als er weggegangen war, ließ sie sich eine kleine Hirschkuh herbeiholen und ließ sie schlachten, und nahm Herz und Zunge, und legte sie auf einen Teller, und als sie den Alten kommen sah, sprach sie zu dem Knaben ‚leg dich ins Bett und zieh die Decke über dich.‘

Da trat der Bösewicht herein und sprach ‚wo ist Herz und Zunge von dem Knaben?, Das Mädchen reichte ihm den Teller, aber der Königssohn warf die Decke ab und sprach ‚du alter Sünder, warum hast du mich töten wollen? nun will ich dir dein Urteil sprechen. Du sollst ein schwarzer Pudelhund werden und eine goldene Kette um den Hals haben, und sollst glühende Kohlen fressen, daß dir die Lohe zum Hals herausschlägt.‘ Und wie er die Worte ausgesprochen hatte, so war der Alte in einen Pudelhund verwandelt, und hatte eine goldene Kette um den Hals, und die Köche mußten lebendige Kohlen heraufbringen, die fraß er, daß ihm die Lohe aus dem Hals herausschlug. Nun blieb der Königssohn noch eine kleine Zeit da und dachte an seine Mutter, und ob sie noch am Leben wäre. Endlich sprach er zu dem Mädchen ‚ich will heim in mein Vaterland, willst du mit mir gehen, so will ich dich ernähren.‘ ‚Ach,‘ antwortete sie, ‚der Weg ist so weit, und was soll ich in einem fremden Lande machen, wo ich unbekannt bin.‘ Weil es also ihr Wille nicht recht war, und sie doch voneinander nicht lassen wollten, wünschte er sie zu einer schönen Nelke und steckte sie bei sich.

Da zog er fort, und der Pudelhund mußte mitlaufen, und zog in sein Vaterland. Nun ging er zu dem Turm, wo seine Mutter darinsaß, und weil der Turm so hoch war, wünschte er eine Leiter herbei, die bis obenhin reichte. Da stieg er hinauf und sah hinein und rief ‚herzliebste Mutter, Frau Königin, seid Ihr noch am Leben, oder seid Ihr tot?‘ Sie antwortete ‚ich habe ja eben gegessen und bin noch satt,‘ und meinte, die Engel wären da. Sprach er ‚ich bin Euer lieber Sohn, den die wilden Tiere Euch sollen vom Schoß geraubt haben: aber ich bin noch am Leben und will Euch bald erretten.‘ Nun stieg er herab und ging zu seinem Herrn Vater, und ließ sich anmelden als ein fremder Jäger, ob er könnte Dienste bei ihm haben. Antwortete der König ja, wenn er gelernt wäre und ihm Wildbret schaffen könnte, sollte er herkommen; es hatte sich aber auf der ganzen Grenze und Gegend niemals Wild aufgehalten. Da sprach der Jäger, er wollte ihm so viel Wild schaffen, als er nur auf der königlichen Tafel brauchen könnte. Dann hieß er die Jägerei zusammenkommen, sie sollten alle mit ihm hinaus in den Wald gehen. Da gingen sie mit, und draußen hieß er sie einen großen Kreis schließen, der an einem Ende offen blieb, und dann stellte er sich hinein und fing an zu wünschen. Alsbald kamen zweihundert und etliche Stück Wildbret in den Kreis gelaufen, und die Jäger mußten es schießen. Da ward alles auf sechzig Bauernwagen geladen und dem König heim gefahren; da konnte er einmal seine Tafel mit Wildbret zieren, nachdem er lange Jahre keins gehabt hatte.

Nun empfand der König große Freude darüber und bestellte, es sollte des andern Tags seine ganze Hofhaltung bei ihm speisen, und machte ein großes Gastmahl. Wie sie alle beisammen waren, sprach er zu dem Jäger ‚weil du so geschickt bist, so sollst du neben mir sitzen.‘ Er antwortete ‚Herr König, Ew. Majestät halte zu Gnaden, ich bin ein schlechter Jägerbursch.‘ Der König aber bestand darauf und sagte ‚du sollst dich neben mich setzen,‘ bis er es tat. Wie er da saß, dachte er an seine liebste Frau Mutter, und wünschte, daß nur einer von des Königs ersten Dienern von ihr anfinge und fragte, wie es wohl der Frau Königin im Turm ginge, ob sie wohl noch am Leben wäre oder verschmachtet. Kaum hatte er es gewünscht, so fing auch schon der Marschall an und sprach ‚königliche Majestät, wir leben hier in Freuden, wie geht es wohl der Frau Königin im Turm, ob sie wohl noch am Leben oder verschmachtet ist?‘ Aber der König antwortete ’sie hat mir meinen lieben Sohn von den wilden Tieren zerreißen lassen, davon will ich nichts hören.‘ Da stand der Jäger auf und sprach, ‚gnädigster Herr Vater, sie ist noch am Leben, und ich bin ihr Sohn, und die wilden Tiere haben ihn nicht geraubt, sondern der Bösewicht, der alte Koch, hat es getan, der hat mich, als sie eingeschlafen war, von ihrem Schoß weggenommen und ihre Schürze mit dem Blut eines Huhns betropft.‘ Darauf nahm er den Hund mit dem goldenen Halsband und sprach ‚das ist der Bösewicht,‘ und ließ glühende Kohlen bringen, die mußte er angesichts aller fressen, daß ihm die Lohe aus dem Hals schlug. Darauf fragte er den König, ob er ihn in seiner wahren Gestalt sehen wollte, und wünschte ihn wieder zum Koch, da stand er alsbald mit der weißen Schürze und dem Messer an der Seite. Der König, wie er ihn sah, ward zornig und befahl, daß er in den tiefsten Kerker sollte geworfen werden. D arauf sprach der Jäger weiter ‚Herr Vater, wollt Ihr auch das Mädchen sehen, das mich so zärtlich aufgezogen hat und mich hernach ums Leben bringen sollte, es aber nicht getan hat, obgleich sein eigenes Leben auf dem Spiel stand?‘ Antwortete der König ‚ja, ich will sie gerne sehen.‘ Sprach der Sohn ‚gnädigster Herr Vater, ich will sie Euch zeigen in Gestalt einer schönen Blume.‘ Und griff in die Tasche und holte die Nelke, und stellte sie auf die königliche Tafel und sie war so schön, wie der König nie eine gesehen hatte. Darauf sprach der Sohn ’nun will ich sie auch in ihrer wahren Gestalt zeigen,‘ und wünschte sie zu einer Jungfrau; da stand sie da und war so schön, daß kein Maler sie hätte schöner malen können.

Der König aber schickte zwei Kammerfrauen und zwei Diener hinab in den Turm, die sollten die Frau Königin holen und an die königliche Tafel bringen. Als sie aber dahin geführt ward, aß sie nichts mehr und sagte ‚der gnädige barmherzige Gott, der mich im Turm erhalten hat, wird mich bald erlösen.‘ Da lebte sie noch drei Tage und starb dann selig; und als sie begraben ward, da folgten ihr die zwei weißen Tauben nach, die ihr das Essen in den Turm gebracht hatten und Engel vom Himmel waren, und setzten sich auf ihr Grab. Der alte König ließ den Koch in vier Stücke zerreißen, aber der Gram zehrte an seinem Herzen, und er starb bald. Der Sohn heiratete die schöne Jungfrau, die er als Blume in der Tasche mitgebracht hatte, und ob sie noch leben, das steht bei Gott.

123 Die Alte im Wald

Es fuhr einmal ein armes Dienstmädchen mit seiner Herrschaft durch einen großen Wald, und als sie mitten darin waren, kamen Räuber aus dem Dickicht hervor und ermordeten, wen sie fanden. Da kamen alle miteinander um bis auf das Mädchen, das war in der Angst aus dem Wagen gesprungen und hatte sich hinter einem Baum verborgen. Wie die Räuber mit ihrer Beute fort waren, trat es herbei und sah das große Unglück. Da fing es an bitterlich zu weinen und sagte: „Was soll ich armes Mädchen nun anfangen, ich weiß mich nicht aus dem Wald herauszufinden, keine Menschenseele wohnt darin, so muß ich gewiß verhungern.“ Es ging herum, suchte einen Weg, konnte aber keinen finden. Als es Abend war, setzte es sich unter einen Baum, befahl sich Gott und wollte da sitzen bleiben und nicht weggehen, möchte geschehen, was immer wollte.

Als es aber eine Weile da gesessen hatte, kam ein weiß Täubchen zu ihm geflogen und hatte ein kleines, goldenes Schlüsselchen im Schnabel. Das Schlüsselchen legte es ihm in die Hand und sprach: „Siehst du dort den großen Baum, daran ist ein kleines Schloß, das schließ mit dem Schlüsselchen auf, so wirst du Speise genug finden und keinen Hunger mehr leiden.“ Da ging es zu dem Baum und schloß ihn auf und fand Milch in einem kleinen Schüsselchen und Weißbrot zum Einbrocken dabei, daß es sich satt essen konnte. Als es satt war, sprach es: „Jetzt ist es Zeit, wo die Hühner daheim auffliegen, ich bin so müde, könnt ich mich doch auch in mein Bett legen.“ Da kam das Täubchen wieder geflogen und brachte ein anderes goldenes Schlüsselchen im Schnabel und sagte: „Schließ dort den Baum auf, so wirst du ein Bett finden.“ Da schloß es auf und fand ein schönes, weiches Bettchen; da betete es zum lieben Gott, er möchte es behüten in der Nacht, legte sich und schlief ein. Am Morgen kam das Täubchen zum drittenmal, brachte wieder ein Schlüsselchen und sprach: „Schließ dort den Baum auf, da wirst du Kleider finden,“ und wie es aufschloß, fand es Kleider, mit Gold und Edelsteinen besetzt, so herrlich, wie sie keine Königstochter hat. Also lebte es da eine Zeitlang, und kam das Täubchen alle Tage und sorgte für alles, was es bedurfte, und war das ein stilles, gutes Leben.

Einmal aber kam das Täubchen und sprach: „Willst du mir etwas zuliebe tun?“

„Von Herzen gerne,“ sagte das Mädchen. Da sprach das Täubchen: „Ich will dich zu einem kleinen Häuschen führen, da geh hinein, mittendrein am Herd wird eine alte Frau sitzen und ›Guten Tag‹ sagen. Aber gib ihr beileibe keine Antwort, sie mag auch anfangen, was sie will, sondern geh zu ihrer rechten Hand weiter, da ist eine Türe, die mach auf, so wirst du in eine Stube kommen, wo eine Menge von Ringen allerlei Art auf dem Tisch liegt, darunter sind prächtige mit glitzerigen Steinen, die laß aber liegen und suche einen schlichten heraus, der auch darunter sein muß, und bring ihn zu mir her, so geschwind du kannst.“

Das Mädchen ging zu dem Häuschen und trat zu der Türe ein; da saß eine Alte, die machte große Augen, wie sie es erblickte, und sprach: „Guten Tag, mein Kind.“ Es gab ihr aber keine Antwort und ging auf die Türe zu. „Wohinaus?“ rief sie und faßte es beim Rock und wollte es festhalten, „das ist mein Haus, da darf niemand herein, wenn ich’s nicht haben will.“ Aber das Mädchen schwieg still, machte sich von ihr los und ging gerade in die Stube hinein. Da lag nun auf dem Tisch eine übergroße Menge von Ringen, die glitzten und glimmerten ihm vor den Augen; es warf sie herum und suchte nach dem schlichten, konnte ihn aber nicht finden.

Wie es so suchte, sah es die Alte, wie sie daherschlich und einen Vogelkäfig in der Hand hatte und damit fort wollte. Da ging es auf sie zu und nahm ihr den Käfig aus der Hand, und wie es ihn aufhob und hineinsah, saß ein Vogel darin, der hatte den schlichten Ring im Schnabel. Da nahm es den Ring und lief ganz froh damit zum Haus hinaus und dachte, das weiße Täubchen würde kommen und den Ring holen, aber es kam nicht. Da lehnte es sich an einen Baum und wollte auf das Täubchen warten, und wie es so stand, da war es, als wäre der Baum weich und biegsam und senkte seine Zweige herab. Und auf einmal schlangen sich die Zweige um es herum und waren zwei Arme, und wie es sich umsah, war der Baum ein schöner Mann, der es umfaßte und herzlich küßte und sagte: „Du hast mich erlöst und aus der Gewalt der Alten befreit, die eine böse Hexe ist. Sie hatte mich in einen Baum verwandelt, und alle Tage ein paar Stunden war ich eine weiße Taube, und solang sie den Ring besaß, konnte ich meine menschliche Gestalt nicht wiedererhalten.“ Da waren auch seine Bedienten und Pferde von dem Zauber frei, die sie auch in Bäume verwandelt hatte, und standen neben ihm. Da fuhren sie fort in sein Reich, denn er war eines Königs Sohn, und sie heirateten sich und lebten glücklich.

KHM 12 Rapunzel

Es war einmal ein Mann und eine Frau, die wünschten sich schon lange vergeblich ein Kind, endlich machte sich die Frau Hoffnung, der liebe Gott werde ihren Wunsch erfüllen. Die Leute hatten in ihrem Hinterhaus ein kleines Fenster, daraus konnte man in einen prächtigen Garten sehen, der voll der schönsten Blumen und Kräuter stand; er war aber von einer hohen Mauer umgeben, und niemand wagte hineinzugehen, weil er einer Zauberin gehörte, die große Macht hatte und von aller Welt gefürchtet ward. Eines Tages stand die Frau an diesem Fenster und sah in den Garten hinab, da erblickte sie ein Beet, das mit den schönsten Rapunzeln bepflanzt war; und sie sahen so frisch und grün aus, dass sie lüstern ward und das größte Verlangen empfand, von den Rapunzeln zu essen. Das Verlangen nahm jeden Tag zu, und da sie wusste, dass sie keine davon bekommen konnte, so fiel sie ganz ab, sah blass und elend aus. Da erschrak der Mann und fragte: „Was fehlt dir, liebe Frau?“ – „Ach,“ antwortete sie, „wenn ich keine Rapunzeln aus dem Garten hinter unserm Hause zu essen kriege, so sterbe ich.“ Der Mann, der sie lieb hatte, dachte: „Eh du deine Frau sterben läßest, holst du ihr von den Rapunzeln, es mag kosten, was es will.“ In der Abenddämmerung stieg er also über die Mauer in den Garten der Zauberin, stach in aller Eile eine Handvoll Rapunzeln und brachte sie seiner Frau. Sie machte sich sogleich Salat daraus und aß sie in voller Begierde auf. Sie hatten ihr aber so gut, so gut geschmeckt, dass sie den andern Tag noch dreimal soviel Lust bekam. Sollte sie Ruhe haben, so musste der Mann noch einmal in den Garten steigen. Er machte sich also in der Abenddämmerung wieder hinab, als er aber die Mauer herabgeklettert war, erschrak er gewaltig, denn er sah die Zauberin vor sich stehen. „Wie kannst du es wagen,“ sprach sie mit zornigem Blick, „in meinen Garten zu steigen und wie ein Dieb mir meine Rapunzeln zu stehlen? Das soll dir schlecht bekommen.“ – „Ach,“ antwortete er, „lasst Gnade für Recht ergehen, ich habe mich nur aus Not dazu entschlossen: meine Frau hat Eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt, und empfindet ein so großes Gelüsten, dass sie sterben würde, wenn sie nicht davon zu essen bekäme.“ Da ließ die Zauberin in ihrem Zorne nach und sprach zu ihm: „Verhält es sich so, wie du sagst, so will ich dir gestatten, Rapunzeln mitzunehmen, soviel du willst, allein ich mache eine Bedingung: Du musst mir das Kind geben, das deine Frau zur Welt bringen wird. Es soll ihm gut gehen, und ich will für es sorgen wie eine Mutter.“ Der Mann sagte in der Angst alles zu, und als die Frau in Wochen kam, so erschien sogleich die Zauberin, gab dem Kinde den Namen Rapunzel und nahm es mit sich fort.

Rapunzel ward das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahre alt war, schloss es die Zauberin in einen Turm, der in einem Walde lag, und weder Treppe noch Türe hatte, nur ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn die Zauberin hinein wollte, so stellte sie sich hin und rief:

„Rapunzel, Rapunzel,
Laß mir dein Haar herunter.“

Rapunzel hatte lange prächtige Haare, fein wie gesponnen Gold. Wenn sie nun die Stimme der Zauberin vernahm, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhaken, und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief herunter, und die Zauberin, stieg daran hinauf.

Nach ein paar Jahren trug es sich zu, dass der Sohn des Königs durch den Wald ritt und an dem Turm vorüberkam. Da hörte er einen Gesang, der war so lieblich, dass er still hielt und horchte. Das war Rapunzel, die in ihrer Einsamkeit sich die Zeit vertrieb, ihre süße Stimme erschallen zu lassen. Der Königssohn wollte zu ihr hinaufsteigen und suchte nach einer Türe des Turms, aber es war keine zu finden. Er ritt heim, doch der Gesang hatte ihm so sehr das Herz gerührt, dass er jeden Tag hinaus in den Wald ging und zuhörte. Als er einmal so hinter einem Baum stand, sah er, dass eine Zauberin herankam, und hörte, wie sie hinaufrief:

„Rapunzel, Rapunzel,
Laß dein Haar herunter.“

Da ließ Rapunzel die Haarflechten herab, und die Zauberin stieg zu ihr hinauf. „Ist das die Leiter, auf welcher man hinaufkommt, so will ich auch einmal mein Glück versuchen.“ Und den folgenden Tag, als es anfing dunkel zu werden, ging er zu dem Turme und rief:

„Rapunzel, Rapunzel,
Laß dein Haar herunter.“

Alsbald fielen die Haare herab, und der Königssohn stieg hinauf.
Anfangs erschrak Rapunzel gewaltig, als ein Mann zu ihr hereinkam, wie ihre Augen noch nie einen erblickt hatten, doch der Königssohn fing an ganz freundlich mit ihr zu reden und erzählte ihr, dass von ihrem Gesang sein Herz so sehr sei bewegt worden, dass es ihm keine Ruhe gelassen und er sie selbst habe sehen müssen. Da verlor Rapunzel ihre Angst, und als er sie fragte, ob sie ihn zum Mann nehmen wollte, und sie sah, dass er jung und schön war, so dachte sie: „Der wird mich lieber haben als die alte Frau Gothel,“ und sagte ja, und legte ihre Hand in seine Hand. Sie sprach: „Ich will gerne mit dir gehen, aber ich weiß nicht, wie ich herabkommen kann. Wenn du kommst, so bringe jedesmal einen Strang Seide mit, daraus will ich eine Leiter flechten, und wenn die fertig ist, so steige ich herunter und du nimmst mich auf dein Pferd.“ Sie verabredeten, dass er bis dahin alle Abend zu ihr kommen sollte, denn bei Tag kam die Alte. Die Zauberin merkte auch nichts davon, bis einmal Rapunzel anfing und zu ihr sagte: „Sag Sie mir doch, Frau Gothel, wie kommt es nur, sie wird mir viel schwerer heraufzuziehen als der junge Königssohn, der ist in einem Augenblick bei mir.“ – „Ach du gottloses Kind,“ rief die Zauberin, „was muss ich von dir hören, ich dachte, ich hätte dich von aller Welt geschieden, und du hast mich doch betrogen!“ In ihrem Zorne packte sie die schönen Haare der Rapunzel, schlug sie ein paarmal um ihre linke Hand, griff eine Schere mit der rechten, und ritsch, ratsch waren sie abgeschnitten, und die schönen Flechten lagen auf der Erde. Und sie war so unbarmherzig, dass sie die arme Rapunzel in eine Wüstenei brachte, wo sie in großem Jammer und Elend leben musste.

Denselben Tag aber, wo sie Rapunzel verstoßen hatte, machte abends die Zauberin die abgeschnittenen Flechten oben am Fensterhaken fest, und als der Königssohn kam und rief:

„Rapunzel, Rapunzel,
Laß dein Haar herunter.“

so ließ sie die Haare hinab. Der Königssohn stieg hinauf, aber er fand oben nicht seine liebste Rapunzel, sondern die Zauberin, die ihn mit bösen und giftigen Blicken ansah. „Aha,“ rief sie höhnisch, „du willst die Frau Liebste holen, aber der schöne Vogel sitzt nicht mehr im Nest und singt nicht mehr, die Katze hat ihn geholt und wird dir auch noch die Augen auskratzen. Für dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken.“ Der Königssohn geriet außer sich vor Schmerzen, und in der Verzweiflung sprang er den Turm herab: das Leben brachte er davon, aber die Dornen, in die er fiel, zerstachen ihm die Augen. Da irrte er blind im Walde umher, aß nichts als Wurzeln und Beeren, und tat nichts als jammern und weinen über den Verlust seiner liebsten Frau. So wanderte er einige Jahre im Elend umher und geriet endlich in die Wüstenei, wo Rapunzel mit den Zwillingen, die sie geboren hatte, einem Knaben und Mädchen, kümmerlich lebte. Er vernahm eine Stimme, und sie deuchte ihn so bekannt; da ging er darauf zu, und wie er herankam, erkannte ihn Rapunzel und fiel ihm um den Hals und weinte. Zwei von ihren Tränen aber benetzten seine Augen, da wurden sie wieder klar, und er konnte damit sehen wie sonst. Er führte sie in sein Reich, wo er mit Freude empfangen ward, und sie lebten noch lange glücklich und vergnügt.

169 Das Waldhaus

Ein armer Holzhauer lebte mit seiner Frau und drei Töchtern in einer kleinen Hütte an dem Rande eines einsamen Waldes. Eines Morgeder gescheite Hansns, als er wieder an seine Arbeit wollte, sagte er zu seiner Frau: „Laß mir ein Mittagsbrot von dem ältesten Mädchen hinaus in den Wald bringen, ich werde sonst nicht fertig. Und damit es sich nicht verirrt,“ setzte er hinzu, „so will ich einen Beutel mit Hirse mitnehmen und die Körner auf den Weg streuen.“

Als nun die Sonne mitten über dem Walde stand, machte sich das Mädchen mit einem Topf voll Suppe auf den Weg. Aber die Feld- und Waldsperlinge, die Lerchen und Finken, Amseln und Zeisige hatten die Hirse schon längst aufgepickt, und das Mädchen konnte die Spur nicht finden. Da ging es auf gut Glück immer fort, bis die Sonne sank und die Nacht einbrach. Die Bäume rauschten in der Dunkelheit, die Eulen schnarrten, und es fing an, ihm angst zu werden. Da erblickte es in der Ferne ein Licht, das zwischen den Bäumen blinkte. Dort sollten wohl Leute wohnen, dachte es, die mich über Nacht behalten, und ging auf das Licht zu. Nicht lange, so kam es an ein Haus, dessen Fenster erleuchtet waren. Es klopfte an, und eine rauhe Stimme rief von innen: „Herein!“ Das Mädchen trat auf die dunkle Diele und pochte an die Stubentür. „Nur herein,“ rief die Stimme, und als es öffnete, saß da ein alter, eisgrauer Mann an dem Tisch, hatte das Gesicht auf die beiden Hände gestützt, und sein weißer Bart floß über den Tisch herab fast bis auf die Erde. Am Ofen aber lagen drei Tiere, ein Hühnchen, ein Hähnchen und eine buntgescheckte Kuh. Das Mädchen erzählte dem Alten sein Schicksal und bat um ein Nachtlager. Der Mann sprach:

„Schön Hühnchen,
Schön Hähnchen
Und du schöne bunte Kuh,
Was sagst du dazu?“

„Duks!“ antworteten die Tiere, und das mußte wohl heißen ‚wir sind es zufrieden‘, denn der Alte sprach weiter: „Hier ist Hülle und Fülle, geh hinaus an den Herd und koch uns ein Abendessen.“ Das Mädchen fand in der Küche Überfluß an allem und kochte eine gute Speise, aber an die Tiere dachte es nicht. Es trug die volle Schüssel auf den Tisch, setzte sich zu dem grauen Mann, aß und stillte seinen Hunger. Als es satt war, sprach es: „Aber jetzt bin ich müde, wo ist ein Bett, in das ich mich legen und schlafen kann?“ Die Tiere antworteten:

„Du hast mit ihm gegessen,
Du hast mit ihm getrunken,
Du hast an uns gar nicht gedacht,
Nun sieh auch. wo du bleibst die Nacht.“

Da sprach der Alte: „Steig nur die Treppe hinauf, so wirst du eine Kammer mit zwei Betten finden, schüttle sie auf und decke sie mit weißem Linnen, so will ich auch kommen und mich schlafen legen.“ Das Mädchen stieg hinauf, und als es die Betten geschüttelt und frisch gedeckt hatte, da legte es sich in das eine, ohne weiter auf den Alten zu warten. Nach einiger Zeit aber kam der graue Mann, beleuchtete das Mädchen mit dem Licht und schüttelte den Kopf. Und als er sah, daß es fest eingeschlafen war, öffnete er eine Falltüre und ließ es in den Keller sinken.

Der Holzhauer kam am späten Abend nach Haus und machte seiner Frau Vorwürfe, daß sie ihn den ganzen Tag habe hungern lassen. „Ich habe keine Schuld,“ antwortete sie, „das Mädchen ist mit dem Mittagessen hinausgegangen, es muß sich verirrt haben; morgen wird es schon wiederkommen.“ Vor Tag aber stand der Holzhauer auf, wollte in den Wald, verlangte, die zweite Tochter solle ihm diesmal das Essen bringen. „Ich will einen Beutel mit Linsen mitnehmen,“ sagte er, „die Körner sind größer als Hirse, das Mädchen wird sie besser sehen und kann den Weg nicht verfehlen.“ Zur Mittagszeit trug auch das Mädchen die Speise hinaus, aber die Linsen waren verschwunden: die Waldvögel hatten sie, wie am vorigen Tag, aufgepickt und keine übriggelassen. Das Mädchen irrte im Walde umher, bis es Nacht ward, da kam es ebenfalls zu dem Haus des Alten, ward hereingerufen und bat um Speise und Nachtlager. Der Mann mit dem weißen Barte fragte wieder die Tiere:

„Schön Hühnchen,
schön Hähnchen
Und du schöne bunte Kuh,
Was sagst du dazu?“

Die Tiere antworteten abermals: „Duks!“ und es geschah alles wie am vorigen Tag. Das Mädchen kochte eine gute Speise, aß und trank mit dem Alten und kümmerte sich nicht um die Tiere. Und als es sich nach seinem Nachtlager erkundigte, antworteten sie:

„Du hast, mit ihm gegessen,
Du hast mit ihm getrunken,
Du hast an uns gar nicht gedacht,
Nun sieh auch, wo du bleibst die Nacht.“

Als es eingeschlafen war, kam der Alte, betrachtete es mit Kopfschütteln und ließ es in den Keller hinab. Am dritten Morgen sprach der Holzhacker zu seiner Frau: „Schick unser jüngstes Kind mit dem Essen hinaus, das ist immer gut und gehorsam gewesen, das wird auf dem rechten Weg bleiben und nicht wie seine Schwestern, die wilden Hummeln, herumschwärmen.“ Die Mutter wollte nicht und sprach: „Soll ich mein liebstes Kind auch noch verlieren?“ – „Sei ohne Sorge,“ antwortete er, „das Mädchen verirrt sich nicht, es ist zu klug und verständig; zum Überfluß will ich Erbsen mitnehmen und ausstreuen, die sind noch größer als Linsen und werden ihm den Weg zeigen.“ Aber als das Mädchen mit dem Korb am Arm hinauskam, so hatten die Waldtauben die Erbsen schon im Kropf, und es wußte nicht, wohin es sich wenden sollte. Es war voll Sorgen und dachte beständig daran, wie der arme Vater hungern und die gute Mutter jammern würde, wenn es ausblieb. Endlich, als es finster ward, erblickte es das Lichtchen und kam an das Waldhaus. Es bat ganz freundlich, sie möchten es über Nacht beherbergen, und der Mann mit dem weißen Bart fragte wieder seine Tiere:

„Schön Hühnchen,
Schön Hähnchen
Und du schöne bunte Kuh,
Was sagst du dazu?“

„Duks!“ sagten sie. Da trat das Mädchen an den Ofen, wo die Tiere lagen, und liebkoste Hühnchen und Hähnchen, indem es mit der Hand über die glatten Federn hinstrich, und die bunte Kuh kraute es zwischen den Hörnern. Und als es auf Geheiß des Alten eine gute Suppe bereitet hatte und die Schüssel auf dem Tisch stand, so sprach es: „Soll ich mich sättigen, und die guten Tiere sollen nichts haben? Draußen ist die Hülle und Fülle, erst will ich für sie sorgen.“ Da ging es, holte Gerste und streute sie dem Hühnchen und Hähnchen vor und brachte der Kuh wohlriechendes Heu, einen ganzen Arm voll. „Laßt’s euch schmecken, ihr lieben Tiere,“ sagte es, „und wenn ihr durstig seid, sollt ihr auch einen frischen Trunk haben.“ Dann trug es einen Eimer voll Wasser herein, und Hühnchen und Hähnchen sprangen auf den Rand, steckten den Schnabel hinein und hielten den Kopf dann in die Höhe, wie die Vögel trinken, und die bunte Kuh tat auch einen herzhaften Zug. Als die Tiere gefüttert waren, setzte sich das Mädchen zu dem Alten an den Tisch und aß, was er ihm übriggelassen hatte. Nicht lange, so fing das Hühnchen und Hähnchen an, das Köpfchen zwischen die Flügel zu stecken, und die bunte Kuh blinzelte mit den Augen. Da sprach das Mädchen: „Sollen wir uns nicht zur Ruhe begeben?“

„Schön Hühnchen,
Schön Hähnchen
Und du schöne, bunte Kuh,
Was sagst du dazu?“

Die Tiere antworteten: „Duks,

Du hast mit uns gegessen,
Du hast mit uns getrunken,
Du hast uns alle wohlbedacht,
Wir wünschen dir eine gute Nacht.“

Da ging das Mädchen die Treppe hinauf, schüttelte die Federkissen und deckte frisches Linnen auf, und als es fertig war, kam der Alte und legte sich in das eine Bett, und sein weißer Bart reichte ihm bis an die Füße. Das Mädchen legte sich in das andere, tat sein Gebet und schlief ein.Es schlief ruhig bis Mitternacht, da ward es so unruhig in dem Hause, daß das Mädchen erwachte. Da fing es an, in den Ecken zu knittern und zu knattern, und die Türe sprang auf und schlug an die Wand; die Balken dröhnten, als wenn sie aus ihren Fugen gerissen würden, und es war, als wenn die Treppe herabstürzte, und endlich krachte es, als wenn das ganze Dach zusammenfiele. Da es aber wieder still ward und dem Mädchen nichts zuleid geschah, so blieb es ruhig liegen und schlief wieder ein.Als es aber am Morgen bei hellem Sonnenschein aufwachte, was erblickten seine Augen? Es lag in einem großen Saal, und ringsumher glänzte alles in königlicher Pracht: An den Wänden wuchsen auf grünseidenem Grund goldene Blumen in die Höhe, das Bett war von Elfenbein und die Decke darauf von rotem Samt, und auf einem Stuhl daneben stand ein Paar mit Perlen gestickte Pantoffeln.Das Mädchen glaubte, es wäre ein Traum, aber es traten drei reichgekleidete Diener herein und fragten, was es zu befehlen hätte. „Geht nur,“ antwortete das Mädchen, „ich will gleich aufstehen und dem Alten eine Suppe kochen und dann auch schön Hühnchen, schön Hähnchen und die schöne bunte Kuh füttern.“ Es dachte, der Alte wäre schon aufgestanden, und sah sich nach seinem Bette um, aber er lag nicht darin, sondern ein fremder Mann. Und als es ihn betrachtete und sah, daß er jung und schön war, erwachte er, richtete sich auf und sprach: „Ich bin ein Königssohn und war von einer bösen Hexe verwünscht worden, als ein alter, eisgrauer Mann in dem Wald zu leben, niemand durfte um mich sein als meine drei Diener in der Gestalt eines Hühnchens, eines Hähnchens und einer bunten Kuh. Und nicht eher sollte die Verwünschung aufhören, als bis ein Mädchen zu uns käme, so gut von Herzen, daß es nicht nur gegen die Menschen allein, sondern auch gegen die Tiere sich liebreich bezeigte, und das bist du gewesen, und heute um Mitternacht sind wir durch dich erlöst und das alte Waldhaus ist wieder in meinen königlichen Palast verwandelt worden.“ Und als sie aufgestanden waren, sagte der Königssohn den drei Dienern, sie sollten hinausfahren und Vater und Mutter des Mädchens zur Hochzeit herbeiholen. „Aber wo sind meine zei Schwestern?“ fragte das Mädchen. „Die habe ich in den Keller gesperrt, und morgen sollen sie in den Wald geführt werden und sollen be; dem Köhler so lange als Mägde dienen, bis sie sich gebessert haben und auch die armen Tiere nicht hungern lassen.“

Die Nixe im Teich


Es war einmal ein Müller, der führte mit seiner Frau ein vergnügtes Leben. Sie hatten Geld und Gut, und ihr Wohlstand nahm von Jahr zu Jahr noch zu. Aber Unglück kommt über Nacht: wie ihr Reichtum gewachsen war, so schwand er von Jahr zu Jahr wieder hin, und zuletzt konnte der Müller kaum noch die Mühle, in der er saß, sein Eigentum nennen. Er war voll Kummer, und wenn er sich nach der Arbeit des Tages niederlegte, so fand er keine Ruhe, sondern wälzte sich voll Sorgen in seinem Bett. Eines Morgens stand er schon vor Tagesanbruch auf, ging hinaus ins Freie und dachte, es sollte ihm leichter ums Herz werden. Als er über dem Mühldamm dahinschritt, brach eben der erste Sonnenstrahl hervor, und er hörte in dem Weiher etwas rauschen. Er wendete sich um und erblickte ein schönes Weib, das sich langsam aus dem Wasser erhob. Ihre langen Haare, die sie über den Schultern mit ihren zarten Händen gefaßt hatte, flossen an beiden Seiten herab und bedeckten ihren weißen Leib. Er sah wohl, daß es die Nixe des Teichs war, und wußte vor Furcht nicht, ob er davongehen oder stehen bleiben sollte. Aber die Nixe ließ ihre sanfte Stimme hören, nannte ihn bei Namen und fragte, warum er so traurig wäre. Der Müller war anfangs verstummt, als er sie aber so freundlich sprechen hörte, faßte er sich ein Herz und erzählte ihr, daß er sonst in Glück und Reichtum gelebt hätte, aber jetzt so arm wäre, daß er sich nicht zu raten wüßte. „Sei ruhig,“ antwortete die Nixe, „ich will dich reicher und glücklicher machen, als du je gewesen bist, nur mußt du mir versprechen, daß du mir geben willst, was eben in deinem Hause jung geworden ist.“ – „Was kann das anders sein,“ dachte der Müller, „als ein junger Hund oder ein junges Kätzchen?“ und sagte ihr zu, was sie verlangte. Die Nixe stieg wieder in das Wasser hinab, und er eilte getröstet und gutes Mutes nach seiner Mühle. Noch hatte er sie nicht erreicht, da trat die Magd aus der Haustüre und rief ihm zu, er sollte sich freuen, seine Frau hätte ihm einen kleinen Knaben geboren. Der Müller stand wie vom Blitz gerührt, er sah wohl, daß die tückische Nixe das gewußt und ihn betrogen hatte. Mit gesenktem Haupt trat er zu dem Bett seiner Frau, und als sie ihn fragte: „Warum freust du dich nicht über den schönen Knaben?“ so erzählte er ihr, was ihm begegnet war, und was für ein Versprechen er der Nixe gegeben hatte. „Was hilft mir Glück und Reichtum,“ fügte er hinzu, „wenn ich mein Kind verlieren soll? aber was kann ich tun?“ Auch die Verwandten, die herbeigekommen waren, Glück zu wünschen, wußten keinen Rat.

Indessen kehrte das Glück in das Haus des Müllers wieder ein. Was er unternahm, gelang, es war, als ob Kisten und Kasten von selbst sich füllten und das Geld im Schrank über Nacht sich mehrte. Es dauerte nicht lange, so war sein Reichtum größer als je zuvor. Aber er konnte sich nicht ungestört darüber freuen: die Zusage, die er der Nixe getan hatte, quälte sein Herz. Sooft er an dem Teich vorbeikam, fürchtete er, sie möchte auftauchen und ihn an seine Schuld mahnen. Den Knaben selbst ließ er nicht in die Nähe des Wassers. „Hüte dich,“ sagte er zu ihm, „wenn du das Wasser berührst, so kommt eine Hand heraus, hascht dich und zieht dich hinab.“ Doch als Jahr auf Jahr verging und die Nixe sich nicht wieder zeigte, so fing der Müller an sich zu beruhigen.

Der Knabe wuchs zum Jüngling heran und kam bei einem Jäger in die Lehre. Als er ausgelernt hatte und ein tüchtiger Jäger geworden war, nahm ihn der Herr des Dorfes in seine Dienste. In dem Dorf war ein schönes und treues Mädchen, das gefiel dem Jäger, und als sein Herr das bemerkte, schenkte er ihm ein kleines Haus; die beiden hielten Hochzeit, lebten ruhig und glücklich und liebten sich von Herzen.

Einstmals verfolgte der Jäger ein Reh. Als das Tier aus dem Wald in das freie Feld ausbog, setzte er ihm nach und streckte es endlich mit einem Schuß nieder. Er bemerkte nicht, daß er sich in der Nähe des gefährlichen Weihers befand, und ging, nachdem er das Tier ausgeweidet hatte, zu dem Wasser, um seine mit Blut befleckten Hände zu waschen. Kaum aber hatte er sie hineingetaucht, als die Nixe emporstieg, lachend mit ihren nassen Armen ihn umschlang und so schnell hinabzog, daß die Wellen über ihm zusammenschlugen.

Als es Abend war und der Jäger nicht nach Haus kam, so geriet seine Frau in Angst. Sie ging aus, ihn zu suchen, und da er ihr oft erzählt hatte, daß er sich vor den Nachstellungen der Nixe in acht nehmen müßte und nicht in die Nähe des Weihers sich wagen dürfte, so ahnte sie schon, was geschehen war. Sie eilte zu dem Wasser, und als sie am Ufer seine Jägertasche liegen fand, da konnte sie nicht länger an dem Unglück zweifeln. Wehklagend und händeringend rief sie ihren Liebsten mit Namen, aber vergeblich: sie eilte hinüber auf die andere Seite des Weihers, und rief ihn aufs neue: sie schalt die Nixe mit harten Worten, aber keine Antwort erfolgte. Der Spiegel des Wassers blieb ruhig, nur das halbe Gesicht des Mondes blickte unbeweglich zu ihr herauf.

Die arme Frau verließ den Teich nicht. Mit schnellen Schritten, ohne Rast und Ruhe, umkreiste sie ihn immer von neuem, manchmal still, manchmal einen heftigen Schrei ausstoßend, manchmal in leisem Wimmern. Endlich waren ihre Kräfte zu Ende: sie sank zur Erde nieder und verfiel in einen tiefen Schlaf. Bald überkam sie ein Traum.

Sie stieg zwischen großen Felsblöcken angstvoll aufwärts; Dornen und Ranken hakten sich an ihre Füße, der Regen schlug ihr ins Gesicht und der Wind zauste ihr langes Haar. Als sie die Anhöhe erreicht hatte, bot sich ein ganz anderer Anblick dar. Der Himmel war blau, die Luft mild, der Boden senkte sich sanft hinab und auf einer grünen, bunt beblümten Wiese stand eine reinliche Hütte. Sie ging darauf zu und öffnete die Türe, da saß eine Alte mit weißen Haaren, die ihr freundlich winkte. In dem Augenblick erwachte die arme Frau. Der Tag war schon angebrochen, und sie entschloß sich gleich, dem Traume Folge zu leisten. Sie stieg mühsam den Berg hinauf, und es war alles so, wie sie es in der Nacht gesehen hatte. Die Alte empfing sie freundlich und zeigte ihr einen Stuhl, auf den sie sich setzen sollte. „Du mußt ein Unglück erlebt haben,“ sagte sie, „weil du meine einsame Hütte aufsuchst.“ Die Frau erzählte ihr unter Tränen, was ihr begegnet war. „Tröste dich,“ sagte die Alte, „ich will dir helfen: da hast du einen goldenen Kamm. Harre, bis der Vollmond aufgestiegen ist, dann geh zu dem Weiher, setze dich am Rand nieder und strähle dein langes schwarzes Haar mit diesem Kamm. Wenn du aber fertig bist, so lege ihn am Ufer nieder, und du wirst sehen, was geschieht.“

Die Frau kehrte zurück, aber die Zeit bis zum Vollmond verstrich ihr langsam. Endlich erschien die leuchtende Scheibe am Himmel, da ging sie hinaus an den Weiher, setzte sich nieder und kämmte ihre langen schwarzen Haare mit dem goldenen Kamm, und als sie fertig war, legte sie ihn an den Rand des Wassers nieder. Nicht lange, so brauste es aus der Tiefe, eine Welle erhob sich, rollte an das Ufer und führte den Kamm mit sich fort. Es dauerte nicht länger, als der Kamm nötig hatte, auf den Grund zu sinken, so teilte sich der Wasserspiegel, und der Kopf des Jägers stieg in die Höhe. Er sprach nicht, schaute aber seine Frau mit traurigen Blicken an. In demselben Augenblick kam eine zweite Welle herangerauscht und bedeckte das Haupt des Mannes. Alles war verschwunden, der Weiher lag so ruhig wie zuvor, und nur das Gesicht des Vollmondes glänzte darauf.

Trostlos kehrte die Frau zurück, doch der Traum zeigte ihr die Hütte der Alten. Abermals machte sie sich am nächsten Morgen auf den Weg und klagte der weisen Frau ihr Leid. Die Alte gab ihr eine goldene Flöte und sprach: „Harre, bis der Vollmond wiederkommt, dann nimm diese Flöte, setze dich an das Ufer, blas ein schönes Lied darauf, und wenn du damit fertig bist, so lege sie auf den Sand; du wirst sehen, was geschieht.“

Die Frau tat, wie die Alte gesagt hatte. Kaum lag die Flöte auf dem Sand, so brauste es aus der Tiefe: eine Welle erhob sich, zog heran, und führte die Flöte mit sich fort. Bald darauf teilte sich das Wasser, und nicht bloß der Kopf, auch der Mann bis zur Hälfte des Leibes stieg hervor. Er breitete voll Verlangen seine Arme nach ihr aus, aber eine zweite Welle rauschte heran, bedeckte ihn und zog ihn wieder hinab.

„Ach, was hilft es mir,“ sagte die Unglückliche, „daß ich meinen Liebsten nur erblicke, um ihn wieder zu verlieren.“ Der Gram erfüllte aufs neue ihr Herz, aber der Traum führte sie zum drittenmal in das Haus der Alten. Sie machte sich auf den Weg, und die weise Frau gab ihr ein goldenes Spinnrad, tröstete sie und sprach: „Es ist noch nicht alles vollbracht, harre bis der Vollmond kommt, dann nimm das Spinnrad, setze dich an das Ufer und spinn die Spule voll, und wenn du fertig bist, so stelle das Spinnrad nahe an das Wasser, und du wirst sehen, was geschieht.“

Die Frau befolgte alles genau. Sobald der Vollmond sich zeigte, trug sie das goldene Spinnrad an das Ufer und spann emsig, bis der Flachs zu Ende und die Spule mit dem Faden ganz angefüllt war. Kaum aber stand das Rad am Ufer, so brauste es noch heftiger als sonst in der Tiefe des Wassers, eine mächtige Welle eilte herbei und trug das Rad mit sich fort. Alsbald stieg mit einem Wasserstrahl der Kopf und der ganze Leib des Mannes in die Höhe. Schnell sprang er ans Ufer, faßte seine Frau an der Hand und entfloh. Aber kaum hatten sie sich eine kleine Strecke entfernt, so erhob sich mit entsetzlichem Brausen der ganze Weiher und strömte mit reißender Gewalt in das weite Feld hinein. Schon sahen die Fliehenden ihren Tod vor Augen, da rief die Frau in ihrer Angst die Hilfe der Alten an, und in dem Augenblick waren sie verwandelt, sie in eine Kröte, er in einen Frosch. Die Flut, die sie erreicht hatte, konnte sie nicht töten, aber sie riß sie beide voneinander und führte sie weit weg.

Als das Wasser sich verlaufen hatte und beide wieder den trocknen Boden berührten, so kam ihre menschliche Gestalt zurück. Aber keiner wußte, wo das andere geblieben war; sie befanden sich unter fremden Menschen, die ihre Heimat nicht kannten. Hohe Berge und tiefe Täler lagen zwischen ihnen. Um sich das Leben zu erhalten, mußten beide die Schafe hüten. Sie trieben lange Jahre ihre Herden durch Feld und Wald und waren voll Trauer und Sehnsucht.

Als wieder einmal der Frühling aus der Erde hervorgebrochen war, zogen beide an einem Tag mit ihren Herden aus, und der Zufall wollte, daß sie einander entgegenzogen. Er erblickte an einem fernen Bergesabhang eine Herde und trieb seine Schafe nach der Gegend hin. Sie kamen in einem Tal zusammen, aber sie erkannten sich nicht, doch freuten sie sich, daß sie nicht mehr so einsam waren. Von nun an trieben sie jeden Tag ihre Herde nebeneinander: sie sprachen nicht viel, aber sie fühlten sich getröstet. Eines Abends, als der Vollmond am Himmel schien und die Schafe schon ruhten, holte der Schäfer die Flöte aus seiner Tasche und blies ein schönes, aber trauriges Lied. Als er fertig war, bemerkte er, daß die Schäferin bitterlich weinte. „Warum weinst du?“ fragte er. „Ach,“ antwortete sie, „so schien auch der Vollmond, als ich zum letztenmal dieses Lied auf der Flöte blies und das Haupt meines Liebsten aus dem Wasser hervorkam.“ Er sah sie an, und es war ihm, als fiele eine Decke von den Augen, er erkannte seine liebste Frau: und als sie ihn anschaute und der Mond auf sein Gesicht schien, erkannte sie ihn auch. Sie umarmten und küßten sich, und ob sie glückselig waren, braucht keiner zu fragen.

53. Sneewittchen

Es war einmal mitten im Winder, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab, da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich »hätt ich ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut, und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen.« Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut, und so schwarzhaarig wie Ebenholz, und ward darum das Sneewittchen (Schneeweißchen) genannt. Und wie das Kind geboren war, starb die Königin.

Über ein Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin. Es war eine schöne Frau, aber sie war stolz und übermütig, und konnte nicht leiden, daß sie an Schönheit von jemand sollte übertroffen werden. Sie hatte einen wunderbaren Spiegel, wenn sie vor den trat und sich darin beschaute, sprach sie

»Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?«
so antwortete der Spiegel
»Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.«
Dawar sie zufrieden, denn sie wußte, daß der Spiegel die Wahrheit sagte.

Sneewittchen aber wuchs heran und wurde immer schöner, und als es sieben Jahre alt war, war es so schön wie der klare Tag, und schöner als die Königin selbst. Als diese einmal ihren Spiegel fragte

»Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?«
so antwortete er
»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber Sneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.«

Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid. Von Stund an, wenn sie Sneewittchen erblickte, kehrte sich ihr das Herz im Leibe herum, so haßte sie das Mädchen. Und der Neid und Hochmut wuchsen wie ein Unkraut in ihrem Herzen immer höher, daß sie Tag und Nacht keine Ruhe mehr hatte. Da rief sie einen Jäger und sprach »bring das Kind hinaus in den Wald, ich wills nicht mehr vor meinen Augen sehen. Du sollst es töten und mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen mitbringen.« Der Jäger gehorchte und führte es hinaus, und als er den Hirschfänger gezogen hatte und Sneewittchens unschuldiges Herz durchbohren wollte, fing es an zu weinen und sprach »ach, lieber Jäger, laß mir mein Leben; ich will in den wilden Wald laufen und nimmermehr wieder heim kommen.« Und weil es so schön war, hatte der Jäger Mitleid und sprach »so lauf hin, du armes Kind.« »Die wilden Tiere werden dich bald gefressen haben,« dachte er, und doch wars ihm, als wär ein Stein von seinem Herzen gewälzt, weil er es nicht zu töten brauchte. Und als gerade ein junger Frischling dahergesprungen kam, stach er ihn ab, nahm Lunge und Leber heraus, und brachte sie als Wahrzeichen der Königin mit. Der Koch mußte sie in Salz kochen, und das boshafte Weib aß sie auf und meinte, sie hätte Sneewittchens Lunge und Leber gegessen.

Nun war das arme Kind in dem großen Wald mutterseelig allein, und ward ihm so angst, daß es alle Blätter an den Bäumen ansah und nicht wußte, wie es sich helfen sollte. Da fing es an zu laufen und lief über die spitzen Steine und durch die Dornen, und die wilden Tiere sprangen an ihm vorbei, aber sie taten ihm nichts. Es lief, solange nur die Füße noch fort konnten, bis es bald Abend werden wollte, da sah es ein kleines Häuschen und ging hinein, sich zu ruhen. In dem Häuschen war alles klein, aber so zierlich und reinlich, daß es nicht zu sagen ist. Da stand ein weißgedecktes Tischlein mit sieben kleinen Tellern, jedes Tellerlein mit seinem Löffelein, ferner sieben Messerlein und Gäblein, und sieben Becherlein. An der Wand waren sieben Bettlein nebeneinander aufgestellt und schneeweiße Laken darüber gedeckt. Sneewittchen, weil es so hungrig und durstig war, aß von jedem Tellerlein ein wenig Gemüs und Brot, und trank aus jedem Becherlein einen Tropfen Wein; denn es wollte nicht einem allein alles wegnehmen. Hernach, weil es so müde war, legte es sich in ein Bettchen, aber keins paßte; das eine war zu lang, das andere zu kurz, bis endlich das siebente recht war: und darin blieb es liegen, befahl sich Gott und schlief ein.

Als es ganz dunkel geworden war, kamen die Herren von dem Häuslein, das waren die sieben Zwerge, die in den Bergen nach Erz hackten und gruben. Sie zündeten ihre sieben Lichtlein an, und wie es nun hell im Häuslein ward, sahen sie, daß jemand darin gewesen war, denn es stand nicht alles so in der Ordnung, wie sie es verlassen hatten. Der erste sprach »wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?« Der zweite »wer hat von meinem Tellerchen gegessen?« Der dritte »wer hat von meinem Brötchen genommen?« Der vierte »wer hat von meinem Gemüschen gegessen?« Der fünfte »wer hat mit meinem Gäbelchen gestochen?« Der sechste »wer hat mit meinem Messerchen geschnitten?« Der siebente »wer hat aus meinem Becherlein getrunken?« Dann sah sich der erste um und sah, daß auf seinem Bett eine kleine Delle war, da sprach er »wer hat in mein Bettchen getreten?« Die andern kamen gelaufen und riefen »in meinem hat auch jemand gelegen.« Der siebente aber, als er in sein Bett sah, erblickte Sneewittchen, das lag darin und schlief. Nun rief er die andern, die kamen herbeigelaufen, und schrien vor Verwunderung, holten ihre sieben Lichtlein und beleuchteten Sneewittchen. »Ei, du mein Gott! ei, du mein Gott!« riefen sie, »was ist das Kind so schön!« und hatten so große Freude, daß sie es nicht aufweckten, sondern im Bettlein fortschlafen ließen. Der siebente Zwerg aber schlief bei seinen Gesellen, bei jedem eine Stunde, da war die Nacht herum.

Als es Morgen war, erwachte Sneewittchen, und wie es die sieben Zwerge sah, erschrak es. Sie waren aber freundlich und fragten »wie heißt du?« »Ich heiße Sneewittchen,« antwortete es. »Wie bist du in unser Haus gekommen?« sprachen weiter die Zwerge. Da erzählte es ihnen, daß seine Stiefmutter es hätte wollen umbringen lassen, der Jäger hätte ihm aber das Leben geschenkt, und da wär es gelaufen den ganzen Tag, bis es endlich ihr Häuslein gefunden hätte. Die Zwerge sprachen »willst du unsern Haushalt versehen, kochen, betten, waschen, nähen und stricken, und willst du alles ordentlich und reinlich halten, so kannst du bei uns bleiben, und es soll dir an nichts fehlen.« »Ja,« sagte Sneewittchen, »von Herzen gern,« und blieb bei ihnen. Es hielt ihnen das Haus in Ordnung: morgens gingen sie in die Berge und suchten Erz und Gold, abends kamen sie wieder, und da mußte ihr Essen bereit sein. Den Tag über war das Mädchen allein, da warnten es die guten Zwerglein und sprachen »hüte dich vor deiner Stiefmutter, die wird bald wissen, daß du hier bist; laß ja niemand herein.«

Die Königin aber, nachdem sie Sneewittchens Lunge und Leber glaubte gegessen zu haben, dachte nicht anders, als sie wäre wieder die erste und Allerschönste, trat vor ihren Spiegel und sprach

»Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?«
Da antwortete der Spiegel

»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber Sneewittchen über den Bergen
bei den sieben Zwergen
ist noch tausendmal schöner als Ihr.«

Da erschrak sie, denn sie wußte, daß der Spiegel keine Unwahrheit sprach, und merkte, daß der Jäger sie betrogen hatte und Sneewittchen noch am Leben war. Und da sann und sann sie aufs neue, wie sie es umbringen wollte; denn solange sie nicht die Schönste war im ganzen Land, ließ ihr der Neid keine Ruhe. Und als sie sich endlich etwas ausgedacht hatte, färbte sie sich das Gesicht, und kleidete sich wie eine alte Krämerin, und war ganz unkenntlich. In dieser Gestalt ging sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Türe und rief »schöne Ware feil! feil!« Sneewittchen guckte zum Fenster heraus und rief »guten Tag, liebe Frau, was habt Ihr zu verkaufen?« »Gute Ware, schöne Ware«, antwortete sie, »Schnürriemen von allen Farben,« und holte einen hervor, der aus bunter Seide geflochten war. »Die ehrliche Frau kann ich hereinlassen,« dachte Sneewittchen, riegelte die Türe auf und kaufte sich den hübschen Schnürriemen. »Kind,« sprach die Alte, »wie du aussiehst! komm, ich will dich einmal ordentlich schnüren.« Sneewittchen hatte kein Arg, stellte sich vor sie, und ließ sich mit dem neuen Schnürriemen schnüren: aber die Alte schnürte geschwind und schnürte so fest, daß dem Sneewittchen der Atem verging, und es für tot hinfiel. »Nun bist du die Schönste gewesen,« sprach sie und eilte hinaus.

Nicht lange darauf, zur Abendzeit, kamen die sieben Zwerge nach Haus, aber wie erschraken sie, als sie ihr liebes Sneewittchen auf der Erde liegen sahen; und es regte und bewegte sich nicht, als wäre es tot. Sie hoben es in die Höhe, und weil sie sahen, daß es zu fest geschnürt war, schnitten sie den Schnürriemen entzwei: da fing es an ein wenig zu atmen, und ward nach und nach wieder lebendig. Als die Zwerge hörten, was geschehen war, sprachen sie »die alte Krämerfrau war niemand als die gottlose Königin: hüte dich und laß keinen Menschen herein, wenn wir nicht bei dir sind.«

Das böse Weib aber, als es nach Haus gekommen war, ging vor den Spiegel und fragte

»Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?«
Da antwortete er wie sonst
»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber Sneewittchen über den Bergen
bei den sieben Zwergen
ist noch tausendmal schöner als Ihr.«

Als sie das hörte, lief ihr alles Blut zum Herzen, so erschrak sie, denn sie sah wohl, daß Sneewittchen wieder lebendig geworden war. »Nun aber,« sprach sie, »will ich etwas aussinnen, das dich zugrunde richten soll,« und mit Hexenkünsten, die sie verstand, machte sie einen giftigen Kamm. Dann verkleidete sie sich und nahm die Gestalt eines andern alten Weibes an. So ging sie hin über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Türe und rief »gute Ware feil! feil!« Sneewittchen schaute heraus und sprach »geht nur weiter, ich darf niemand hereinlassen.« »Das Ansehen wird dir doch erlaubt sein,« sprach die Alte, zog den giftigen Kamm heraus und hielt ihn in die Höhe. Da gefiel er dem Kinde so gut, daß es sich betören ließ und die Türe öffnete. Als sie des Kaufs einig waren, sprach die Alte »nun will ich dich einmal ordentlich kämmen.« Das arme Sneewittchen dachte an nichts, und ließ die Alte gewähren, aber kaum hatte sie den Kamm in die Haare gesteckt, als das Gift darin wirkte, und das Mädchen ohne Besinnung niederfiel. »Du Ausbund von Schönheit,« sprach das boshafte Weib, »jetzt ists um dich geschehen,« und ging fort. Zum Glück aber war es bald Abend, wo die sieben Zwerglein nach Haus kamen. Als sie Sneewittchen wie tot auf der Erde liegen sahen, hatten sie gleich die Stiefmutter in Verdacht, suchten nach, und fanden den giftigen Kamm, und kaum hatten sie ihn herausgezogen, so kam Sneewittchen wieder zu sich und erzählte, was vorgegangen war. Da warnten sie es noch einmal, auf seiner Hut zu sein und niemand die Türe zu öffnen.

Die Königin stellte sich daheim vor den Spiegel und sprach

»Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?«
Da antwortete er wie vorher
»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber Sneewittchen über den Bergen
bei den sieben Zwergen
ist noch tausendmal schöner als Ihr.«

Als sie den Spiegel so reden hörte, zitterte und bebte sie vor Zorn. »Sneewittchen soll sterben,« rief sie, »und wenn es mein eignes Leben kostet.« Darauf ging sie in eine ganz verborgene einsame Kammer, wo niemand hinkam, und machte da einen giftigen giftigen Apfel. Äußerlich sah er schön aus, weiß mit roten Backen, daß jeder, der ihn erblickte, Lust danach bekam, aber wer ein Stückchen davon aß, der mußte sterben. Als der Apfel fertig war, färbte sie sich das Gesicht und verkleidete sich in eine Bauersfrau, und so ging sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen. Sie klopfte an, Sneewittchen streckte den Kopf zum Fenster heraus und sprach »ich darf keinen Menschen einlassen, die sieben Zwerge haben mirs verboten.« »Mir auch recht,« antwortete die Bäuerin, »meine Äpfel will ich schon los werden. Da, einen will ich dir schenken.« »Nein,« sprach Sneewittchen, »ich darf nichts annehmen.« »Fürchtest du dich vor Gift?« sprach die Alte, »siehst du, da schneide ich den Apfel in zwei Teile; den roten Backen iß du, den weißen will ich essen.« Der Apfel war aber so künstlich gemacht, daß der rote Backen allein vergiftet war. Sneewittchen lusterte den schönen Apfel an, und als es sah, daß die Bäuerin davon aß, so konnte es nicht länger widerstehen, streckte die Hand hinaus und nahm die giftige Hälfte. Kaum aber hatte es einen Bissen davon im Mund, so fiel es tot zur Erde nieder. Da betrachtete es die Königin mit grausigen Blicken und lachte überlaut und sprach »weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz! diesmal können dich die Zwerge nicht wieder erwecken.« Und als sie daheim den Spiegel befragte

»Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?«
so antwortete er endlich
»Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.«

Da hatte ihr neidisches Herz Ruhe, so gut ein neidisches Herz Ruhe haben kann. Die Zwerglein, wie sie abends nach Haus kamen, fanden Sneewittchen auf der Erde liegen, und es ging kein Atem mehr aus seinem Mund, und es war tot. Sie hoben es auf, suchten, ob sie was Giftiges fänden, schnürten es auf, kämmten ihm die Haare, wuschen es mit Wasser und Wein, aber es half alles nichts; das liebe Kind war tot und blieb tot. Sie legten es auf eine Bahre und setzten sich alle siebene daran und beweinten es, und weinten drei Tage lang. Da wollten sie es begraben, aber es sah noch so frisch aus wie ein lebender Mensch, und hatte noch seine schönen roten Backen. Sie sprachen »das können wir nicht in die schwarze Erde versenken,« und ließen einen durchsichtigen Sarg von Glas machen, daß man es von allen Seiten sehen konnte, legten es hinein, und schrieben mit goldenen Buchstaben seinen Namen darauf, und daß es eine Königstochter wäre. Dann setzten sie den Sarg hinaus auf den Berg, und einer von ihnen blieb immer dabei und bewachte ihn. Und die Tiere kamen auch und beweinten Sneewittchen, erst eine Eule, dann ein Rabe, zuletzt ein Täubchen. Nun lag Sneewittchen lange lange Zeit in dem Sarg und verweste nicht, sondern sah aus, als wenn es schliefe, denn es war noch so weiß als Schnee, so rot als Blut, und so schwarzhaarig wie Ebenholz. Es geschah aber, daß ein Königssohn in den Wald geriet und zu dem Zwergenhaus kam, da zu übernachten. Er sah auf dem Berg den Sarg und das schöne Sneewittchen darin, und las, was mit goldenen Buchstaben darauf geschrieben war. Da sprach er zu den Zwergen »laßt mir den Sarg, ich will euch geben, was ihr dafür haben wollt.« Aber die Zwerge antworteten »wir geben ihn nicht um alles Gold in der Welt.« Da sprach er »so schenkt mir ihn, denn ich kann nicht leben, ohne Sneewittchen zu sehen, ich will es ehren und hochachten wie mein Liebstes.« Wie er so sprach, empfanden die guten Zwerglein Mitleiden mit ihm und gaben ihm den Sarg. Der Königssohn ließ ihn nun von seinen Dienern auf den Schultern forttragen. Da geschah es, daß sie über einen Strauch stolperten, und von dem Schüttern fuhr der giftige Apfelgrütz, den Sneewittchen abgebissen hatte, aus dem Hals. Und nicht lange, so öffnete es die Augen, hob den Deckel vom Sarg in die Höhe, und richtete sich auf, und war wieder lebendig. »Ach Gott, wo bin ich?« rief es. Der Königssohn sagte voll Freude »du bist bei mir,« und erzählte, was sich zugetragen hatte, und sprach »ich habe dich lieber als alles auf der Welt; komm mit mir in meines Vaters Schloß, du sollst meine Gemahlin werden.« Da war ihm Sneewittchen gut und ging mit ihm, und ihre Hochzeit ward mit großer Pracht und Herrlichkeit angeordnet. Zu dem Fest wurde aber auch Sneewittchens gottlose Stiefmutter eingeladen. Wie sie sich nun mit schönen Kleidern angetan hatte, trat sie vor den Spiegel und sprach

»Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?«

Der Spiegel antwortete

»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber die junge Königin ist tausendmal schöner als Ihr.«

Da stieß das böse Weib einen Fluch aus, und ward ihr so angst, so angst, daß sie sich nicht zu lassen wußte. Sie wollte zuerst gar nicht auf die Hochzeit kommen: doch ließ es ihr keine Ruhe, sie mußte fort und die junge Königin sehen. Und wie sie hineintrat, erkannte sie Sneewittchen, und vor Angst und Schrecken stand sie da und konnte sich nicht regen. Aber es waren schon eiserne Pantoffeln über Kohlenfeuer gestellt und wurden mit Zangen hereingetragen und vor sie hingestellt. Da mußte sie in die rotglühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel.

163 Der gläserne Sarg

Sage niemand, daß ein armer Schneider es nicht weit bringen und nicht zu hohen Ehren gelangen könne, es ist weiter gar nichts nötig, als daß er an die rechte Schmiede kommt und, was die Hauptsache ist, daß es ihm glückt. Ein solches artiges und behendes Schneiderbürschchen ging einmal seiner Wanderschaft nach und kam in einen großen Wald, und weil es den Weg nicht wußte, verirrte es sich. Die Nacht brach ein, und es blieb ihm nichts übrig, als in dieser schauerlichen Einsamkeit ein Lager zu suchen. Auf dem weichen Moose hätte er freilich ein gutes Bett gefunden, allein die Furcht vor den wilden Tieren ließ ihm da keine Ruhe, und er mußte sich endlich entschließen, auf einem Baume zu übernachten. Er suchte eine hohe Eiche, stieg bis in den Gipfel hinauf und dankte Gott, daß er sein Bügeleisen bei sich trug, weil ihn sonst der Wind, der über die Gipfel der Bäume wehete, weggeführt hätte.

Nachdem er einige Stunden in der Finsternis, nicht ohne Zittern und Zagen, zugebracht hatte, erblickte er in geringer Entfernung den Schein eines Lichtes; und weil er dachte, daß da eine menschliche Wohnung sein möchte, wo er sich besser befinden würde als auf den Ästen eines Baums, so stieg er vorsichtig herab und ging dem Lichte nach. Es leitete ihn zu einem kleinen Häuschen, das aus Rohr und Binsen geflochten war. Er klopfte mutig an, die Türe öffnete sich, und bei dem Scheine des herausfallenden Lichtes sah er ein altes eisgraues Männchen, das ein von buntfarbigen Lappen zusammengesetztes Kleid anhatte. ‚Wer seid Ihr, und was wollt Ihr?‘ fragte es mit einer schnarrenden Stimme. ‚Ich bin ein armer Schneider,‘ antwortete er, ‚den die Nacht hier in der Wildnis überfallen hat, und bitte Euch inständig, mich bis morgen in Eurer Hütte aufzunehmen.‘ ‚Geh deiner Wege,‘ erwiderte der Alte mit mürrischem Tone, ‚mit Landstreichern will ich nichts zu schaffen haben; suche dir anderwärts ein Unterkommen.‘ Nach diesen Worten wollte er wieder in sein Haus schlüpfen, aber der Schneider hielt ihn am Rockzipfel fest und bat so beweglich, daß der Alte, der so böse nicht war, als er sich anstellte, endlich erweicht ward und ihn mit in seine Hütte nahm, wo er ihm zu essen gab und dann in einem Winkel ein ganz gutes Nachtlager anwies.

Der müde Schneider brauchte keines Einwiegens, sondern schlief sanft bis an den Morgen, würde auch noch nicht an das Aufstehen gedacht haben, wenn er nicht von einem lauten Lärm wäre aufgeschreckt worden. Ein heftiges Schreien und Brüllen drang durch die dünnen Wände des Hauses. Der Schneider, den ein unerwarteter Mut überkam, sprang auf, zog in der Hast seine Kleider an und eilte hinaus. Da erblickte er nahe bei dem Häuschen einen großen schwarzen Stier und einen schönen Hirsch, die in dem heftigsten Kampfe begriffen waren. Sie gingen mit so großer Wut aufeinander los, daß von ihrem Getrampel der Boden erzitterte, und die Luft von ihrem Geschrei erdröhnte. Es war lange ungewiß, welcher von beiden den Sieg davontragen würde: endlich stieß der Hirsch seinem Gegner das Geweih in den Leib, worauf der Stier mit entsetzlichem Brüllen zur Erde sank, und durch einige Schläge des Hirsches völlig getötet ward.

Der Schneider, welcher dem Kampfe mit Erstaunen zugesehen hatte, stand noch unbeweglich da, als der Hirsch in vollen Sprüngen auf ihn zueilte und ihn, ehe er entfliehen konnte, mit seinem großen Geweihe geradezu aufgabelte. Er konnte sich nicht lange besinnen, denn es ging schnellen Laufes fort über Stock und Stein, Berg und Tal, Wiese und Wald. Er hielt sich mit beiden Händen an den Enden des Geweihes fest und überließ sich seinem Schicksal. Es kam ihm aber nicht anders vor, als flöge er davon. Endlich hielt der Hirsch vor einer Felsenwand still und ließ den Schneider sanft herabfallen. Der Schneider, mehr tot als lebendig, bedurfte längerer Zeit, um wieder zur Besinnung zu kommen. Als er sich einigermaßen erholt hatte, stieß der Hirsch, der neben ihm stehen geblieben war, sein Geweih mit solcher Gewalt gegen eine in dem Felsen befindliche Türe, daß sie aufsprang. Feuerflammen schlugen heraus, auf welche ein großer Dampf folgte, der den Hirsch seinen Augen entzog. Der Schneider wußte nicht, was er tun und wohin er sich wenden sollte, um aus dieser Einöde wieder unter Menschen zu gelangen. Indem er also unschlüssig stand, tönte eine Stimme aus dem Felsen, die ihm zurief ‚tritt ohne Furcht herein, dir soll kein Leid widerfahren.‘ Er zauderte zwar, doch, von einer heimlichen Gewalt angetrieben, gehorchte er der Stimme und gelangte durch die eiserne Tür in einen großen geräumigen Saal, dessen Decke, Wände und Boden aus glänzend geschliffenen Quadratsteinen bestanden, auf deren jedem ihm unbekannte Zeichen eingehauen waren. Er betrachtete alles voll Bewunderung und war eben im Begriff, wieder hinauszugehen, als er abermals die Stimme vernahm, welche ihm sagte ‚tritt auf den Stein, der in der Mitte des Saales liegt, und dein wartet großes Glück.‘

Sein Mut war schon so weit gewachsen, daß er dem Befehle Folge leistete. Der Stein begann unter seinen Füßen nachzugeben und sank langsam in die Tiefe hinab. Als er wieder feststand und der Schneider sich umsah, befand er sich in einem Saale, der an Umfang dem vorigen gleich war. Hier aber gab es mehr zu betrachten und zu bewundern. In die Wände waren Vertiefungen eingehauen, in welchen Gefäße von durchsichtigem Glase standen, die mit farbigem Spiritus oder mit einem bläulichen Rauche angefüllt waren. Auf dem Boden des Saales standen, einander gegenüber, zwei große gläserne Kasten, die sogleich seine Neugierde reizten. Indem er zu dem einen trat, erblickte er darin ein schönes Gebäude, einem Schlosse ähnlich, von Wirtschaftsgebäuden, Ställen und Scheuern und einer Menge anderer artigen Sachen umgeben. Alles war klein, aber überaus sorgfältig und zierlich gearbeitet, und schien von einer kunstreichen Hand mit der höchsten Genauigkeit ausgeschnitzt zu sein.

Er würde seine Augen von der Betrachtung dieser Seltenheiten noch nicht abgewendet haben, wenn sich nicht die Stimme abermals hätte hören lassen. Sie forderte ihn auf, sich umzukehren und den gegenüberstehenden Glaskasten zu beschauen. Wie stieg seine Verwunderung, als er darin ein Mädchen von größter Schönheit erblickte. Es lag wie im Schlafe, und war in lange blonde Haare wie in einen kostbaren Mantel eingehüllt. Die Augen waren fest geschlossen, doch die lebhafte Gesichtsfarbe und ein Band, das der Atem hin und her bewegte, ließen keinen Zweifel an ihrem Leben. Der Schneider betrachtete die Schöne mit klopfendem Herzen, als sie plötzlich die Augen aufschlug und bei seinem Anblick in freudigem Schrecken zusammenfuhr. ‚Gerechter Himmel,‘ rief sie, ‚meine Befreiung naht! geschwind, geschwind, hilf mir aus meinem Gefängnis: wenn du den Riegel an diesem gläsernen Sarg wegschiebst, so bin ich erlöst.‘ Der Schneider gehorchte ohne Zaudern, alsbald hob sie den Glasdeckel in die Höhe, stieg heraus und eilte in die Ecke des Saals, wo sie sich in einen weiten Mantel verhüllte. Dann setzte sie sich auf einen Stein nieder, hieß den jungen Mann herangehen, und nachdem sie einen freundlichen Kuß auf seinen Mund gedrückt hatte, sprach sie ‚mein lang ersehnter Befreier, der gütige Himmel hat mich zu dir geführt und meinen Leiden ein Ziel gesetzt. An demselben Tage, wo sie endigen, soll dein Glück beginnen. Du bist der vom Himmel bestimmte Gemahl, und sollst, von mir geliebt und mit allen irdischen Gütern überhäuft, in ungestörter Freud dein Leben zubringen. Sitz nieder und höre die Erzählung meines Schicksals.

Ich bin die Tochter eines reichen Grafen. Meine Eltern starben, als ich noch in zarter Jugend war, und empfahlen mich in ihrem letzten Willen meinem älteren Bruder, bei dem ich auferzogen wurde. Wir liebten uns so zärtlich und waren so übereinstimmend in unserer Denkungsart und unsern Neigungen, daß wir beide den Entschluß faßten, uns niemals zu verheiraten, sondern bis an das Ende unseres Lebens beisammen zu bleiben. In unserm Hause war an Gesellschaft nie Mangel: Nachbarn und Freunde besuchten uns häufig, und wir übten gegen alle die Gastfreundschaft in vollem Maße. So geschah es auch eines Abends, daß ein Fremder in unser Schloß geritten kam und unter dem Vorgeben, den nächsten Ort nicht mehr erreichen zu können, um ein Nachtlager bat. Wir gewährten seine Bitte mit zuvorkommender Höflichkeit, und er unterhielt uns während des Abendessens mit seinem Gespräche und eingemischten Erzählungen auf das anmutigste. Mein Bruder hatte ein so großes Wohlgefallen an ihm, daß er ihn bat, ein paar Tage bei uns zu verweilen, wozu er nach einigem Weigern einwilligte. Wir standen erst spät in der Nacht vom Tische auf, dem Fremden wurde ein Zimmer angewiesen, und ich eilte, ermüdet, wie ich war, meine Glieder in die weichen Federn zu senken. Kaum war ich ein wenig eingeschlummert, so weckten mich die Töne einer zarten und lieblichen Musik. Da ich nicht begreifen konnte, woher sie kamen, so wollte ich mein im Nebenzimmer schlafendes Kammermädchen rufen, allein zu meinem Erstaunen fand ich, daß mir, als lastete ein Alp auf meiner Brust, von einer unbekannten Gewalt die Sprache benommen und ich unvermögend war, den geringsten Laut von mir zu geben. Indem sah ich bei dem Schein der Nachtlampe den Fremden in mein durch zwei Türen fest verschlossenes Zimmer eintreten. Er näherte sich mir und sagte, daß er durch Zauberkräfte, die ihm zu Gebote ständen, die liebliche Musik habe ertönen lassen, um mich aufzuwecken, und dringe jetzt selbst durch alle Schlösser in der Absicht, mir Herz und Hand anzubieten. Mein Widerwille aber gegen seine Zauberkünste war so groß, daß ich ihn keiner Antwort würdigte. Er blieb eine Zeitlang unbeweglich stehen, wahrscheinlich in der Absicht, einen günstigen Entschluß zu erwarten, als ich aber fortfuhr zu schweigen, erklärte er zornig, daß er sich rächen und Mittel finden werde, meinen Hochmut zu bestrafen, worauf er das Zimmer wieder verließ. Ich brachte die Nacht in höchster Unruhe zu und schlummerte erst gegen Morgen ein. Als ich erwacht war, eilte ich zu meinem Bruder, um ihn von dem, was vorgefallen war, zu benachrichtigen, allein ich fand ihn nicht auf seinem Zimmer, und der Bediente sagte mir, daß er bei anbrechendem Tage mit dem Fremden auf die Jagd geritten sei.

Mir ahnete gleich nichts Gutes. Ich kleidete mich schnell an, ließ meinen Leibzelter satteln und ritt, nur von einem Diener begleitet, in vollem Jagen nach dem Walde. Der Diener stürzte mit dem Pferde und konnte mir, da das Pferd den Fuß gebrochen hatte, nicht folgen. Ich setzte, ohne mich aufzuhalten, meinen Weg fort, und in wenigen Minuten sah ich den Fremden mit einem schönen Hirsch, den er an der Leine führte, auf mich zukommen. Ich fragte ihn, wo er meinen Bruder gelassen habe und wie er zu diesem Hirsche gelangt sei, aus dessen großen Augen ich Tränen fließen sah. Anstatt mir zu antworten, fing er an laut aufzulachen. Ich geriet darüber in höchsten Zorn, zog eine Pistole und drückte sie gegen das Ungeheuer ab, aber die Kugel prallte von seiner Brust zurück und fuhr in den Kopf meines Pferdes. Ich stürzte zur Erde, und der Fremde murmelte einige Worte, die mir das Bewußtsein raubten.

Als ich wieder zur Besinnung kam, fand ich mich in dieser unterirdischen Gruft in einem gläsernen Sarge. Der Schwarzkünstler erschien nochmals, sagte, daß er meinen Bruder in einen Hirsch verwandelt, mein Schloß mit allem Zubehör verkleinert in den andern Glaskasten eingeschlossen und meine in Rauch verwandelten Leute in Glasflaschen gebannt hätte. Wolle ich mich jetzt seinem Wunsche fügen, so sei ihm ein leichtes, alles wieder in den vorigen Stand zu setzen: er brauche nur die Gefäße zu öffnen, so werde alles wieder in die natürliche Gestalt zurückkehren. Ich antwortete ihm so wenig als das erstemal. Er verschwand und ließ mich in meinem Gefängnisse liegen, in welchem mich ein tiefer Schlaf befiel. Unter den Bildern, welche an meiner Seele vorübergingen, war auch das tröstliche, daß ein junger Mann kam und mich befreite, und als ich heute die Augen öffne, so erblicke ich dich und sehe meinen Traum erfüllt. Hilf mir vollbringen, was in jenem Gesichte noch weiter geschah. Das erste ist, daß wir den Glaskasten, in welchem mein Schloß sich befindet, auf jenen breiten Stein heben.‘

Der Stein, sobald er beschwert war, hob sich mit dem Fräulein und dem Jüngling in die Höhe und stieg durch die Öffnung der Decke in den obern Saal, wo sie dann leicht ins Freie gelangen konnten. Hier öffnete das Fräulein den Deckel, und es war wunderbar anzusehen, wie Schloß, Häuser und Gehöfte sich ausdehnten und in größter Schnelligkeit zu natürlicher Größe heranwuchsen. Sie kehrten darauf in die unterirdische Höhle zurück und ließen die mit Rauch gefüllten Gläser von dem Steine herauftragen. Kaum hatte das Fräulein die Flaschen geöffnet, so drang der blaue Rauch heraus und verwandelte sich in lebendige Menschen, in welchen das Fräulein ihre Diener und Leute erkannte. Ihre Freude ward noch vermehrt, als ihr Bruder, der den Zauberer in dem Stier getötet hatte, in menschlicher Gestalt aus dem Walde herankam, und noch denselben Tag reichte das Fräulein, ihrem Versprechen gemäß, dem glücklichen Schneider die Hand am Altare.

015 Hänsel und Gretel Märchen

Vor einem grossen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern; das Bübchen hiess Hänsel und das Mädchen Gretel. Er hatte wenig zu beissen und zu brechen, und einmal, als grosse Teuerung ins Land kam, konnte er das tägliche Brot nicht mehr schaffen. Wie er sich nun abends im Bette Gedanken machte und sich vor Sorgen herumwälzte, seufzte er und sprach zu seiner Frau: „Was soll aus uns werden? Wie können wir unsere armen Kinder ernähren da wir für uns selbst nichts mehr haben?“ – „Weisst du was, Mann,“ antwortete die Frau, „wir wollen morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dicksten ist. Da machen wir ihnen ein Feuer an und geben jedem noch ein Stückchen Brot, dann gehen wir an unsere Arbeit und lassen sie allein. Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus, und wir sind sie los.“ – „Nein, Frau,“ sagte der Mann, „das tue ich nicht; wie sollt ich’s übers Herz bringen, meine Kinder im Walde allein zu lassen! Die wilden Tiere würden bald kommen und sie zerreissen.“ – „Oh, du Narr,“ sagte sie, „dann müssen wir alle viere Hungers sterben, du kannst nur die Bretter für die Särge hobeln,“ und liess ihm keine Ruhe, bis er einwilligte. „Aber die armen Kinder dauern mich doch,“ sagte der Mann.

Die zwei Kinder hatten vor Hunger auch nicht einschlafen können und hatten gehört, was die Stiefmutter zum Vater gesagt hatte. Gretel weinte bittere Tränen und sprach zu Hänsel: „Nun ist’s um uns geschehen.“ – „Still, Gretel,“ sprach Hänsel, „gräme dich nicht, ich will uns schon helfen.“ Und als die Alten eingeschlafen waren, stand er auf, zog sein Röcklein an, machte die Untertüre auf und schlich sich hinaus. Da schien der Mond ganz hell, und die weissen Kieselsteine, die vor dem Haus lagen, glänzten wie lauter Batzen. Hänsel bückte sich und steckte so viele in sein Rocktäschlein, als nur hinein wollten. Dann ging er wieder zurück, sprach zu Gretel: „Sei getrost, liebes Schwesterchen, und schlaf nur ruhig ein, Gott wird uns nicht verlassen,“ und legte sich wieder in sein Bett.

Als der Tag anbrach, noch ehe die Sonne aufgegangen war, kam schon die Frau und weckte die beiden Kinder: „Steht auf, ihr Faulenzer, wir wollen in den Wald gehen und Holz holen.“ Dann gab sie jedem ein Stückchen Brot und sprach: „Da habt ihr etwas für den Mittag, aber esst’s nicht vorher auf, weiter kriegt ihr nichts.“ Gretel nahm das Brot unter die Schürze, weil Hänsel die Steine in der Tasche hatte. Danach machten sie sich alle zusammen auf den Weg nach dem Wald. Als sie ein Weilchen gegangen waren, stand Hänsel still und guckte nach dem Haus zurück und tat das wieder und immer wieder. Der Vater sprach: „Hänsel, was guckst du da und bleibst zurück, hab acht und vergiss deine Beine nicht!“ – „Ach, Vater,“ sagte Hänsel, „ich sehe nach meinem weissen Kätzchen, das sitzt oben auf dem Dach und will mir Ade sagen.“ Die Frau sprach: „Narr, das ist dein Kätzchen nicht, das ist die Morgensonne, die auf den Schornstein scheint.“ Hänsel aber hatte nicht nach dem Kätzchen gesehen, sondern immer einen von den blanken Kieselsteinen aus seiner Tasche auf den Weg geworfen.

Als sie mitten in den Wald gekommen waren, sprach der Vater: „Nun sammelt Holz, ihr Kinder, ich will ein Feuer anmachen, damit ihr nicht friert.“ Hänsel und Gretel trugen Reisig zusammen, einen kleinen Berg hoch. Das Reisig ward angezündet, und als die Flamme recht hoch brannte, sagte die Frau: „Nun legt euch ans Feuer, ihr Kinder, und ruht euch aus, wir gehen in den Wald und hauen Holz. Wenn wir fertig sind, kommen wir wieder und holen euch ab.“

Hänsel und Gretel sassen um das Feuer, und als der Mittag kam, ass jedes sein Stücklein Brot. Und weil sie die Schläge der Holzaxt hörten, so glaubten sie, ihr Vater wär‘ in der Nähe. Es war aber nicht die Holzaxt, es war ein Ast, den er an einen dürren Baum gebunden hatte und den der Wind hin und her schlug. Und als sie so lange gesessen hatten, fielen ihnen die Augen vor Müdigkeit zu, und sie schliefen fest ein. Als sie endlich erwachten, war es schon finstere Nacht. Gretel fing an zu weinen und sprach: „Wie sollen wir nun aus dem Wald kommen?“ Hänsel aber tröstete sie: „Wart nur ein Weilchen, bis der Mond aufgegangen ist, dann wollen wir den Weg schon finden.“ Und als der volle Mond aufgestiegen war, so nahm Hänsel sein Schwesterchern an der Hand und ging den Kieselsteinen nach, die schimmerten wie neugeschlagene Batzen und zeigten ihnen den Weg. Sie gingen die ganze Nacht hindurch und kamen bei anbrechendem Tag wieder zu ihres Vaters Haus. Sie klopften an die Tür, und als die Frau aufmachte und sah, dass es Hänsel und Gretel waren, sprach sie: „Ihr bösen Kinder, was habt ihr so lange im Walde geschlafen, wir haben geglaubt, ihr wollet gar nicht wiederkommen.“ Der Vater aber freute sich, denn es war ihm zu Herzen gegangen, dass er sie so allein zurückgelassen hatte.

Nicht lange danach war wieder Not in allen Ecken, und die Kinder hörten, wie die Mutter nachts im Bette zu dem Vater sprach: „Alles ist wieder aufgezehrt, wir haben noch einen halben Laib Brot, hernach hat das Lied ein Ende. Die Kinder müssen fort, wir wollen sie tiefer in den Wald hineinführen, damit sie den Weg nicht wieder herausfinden; es ist sonst keine Rettung für uns.“ Dem Mann fiel’s schwer aufs Herz, und er dachte: Es wäre besser, dass du den letzten Bissen mit deinen Kindern teiltest. Aber die Frau hörte auf nichts, was er sagte, schalt ihn und machte ihm Vorwürfe. Wer A sagt, muss B sagen, und weil er das erstemal nachgegeben hatte, so musste er es auch zum zweitenmal.

Die Kinder waren aber noch wach gewesen und hatten das Gespräch mitangehört. Als die Alten schliefen, stand Hänsel wieder auf, wollte hinaus und die Kieselsteine auflesen, wie das vorigemal; aber die Frau hatte die Tür verschlossen, und Hänsel konnte nicht heraus. Aber er tröstete sein Schwesterchen und sprach: „Weine nicht, Gretel, und schlaf nur ruhig, der liebe Gott wird uns schon helfen.“

Am frühen Morgen kam die Frau und holte die Kinder aus dem Bette. Sie erhielten ihr Stückchen Brot, das war aber noch kleiner als das vorigemal. Auf dem Wege nach dem Wald bröckelte es Hänsel in der Tasche, stand oft still und warf ein Bröcklein auf die Erde. „Hänsel, was stehst du und guckst dich um?“ sagte der Vater, „geh deiner Wege!“ – „Ich sehe nach meinem Täubchen, das sitzt auf dem Dache und will mir Ade sagen,“ antwortete Hänsel. „Narr,“ sagte die Frau, „das ist dein Täubchen nicht, das ist die Morgensonne, die auf den Schornstein oben scheint.“ Hänsel aber warf nach und nach alle Bröcklein auf den Weg.

Die Frau führte die Kinder noch tiefer in den Wald, wo sie ihr Lebtag noch nicht gewesen waren. Da ward wieder ein grosses Feuer angemacht, und die Mutter sagte: „Bleibt nur da sitzen, ihr Kinder, und wenn ihr müde seid, könnt ihr ein wenig schlafen. Wir gehen in den Wald und hauen Holz, und abends, wenn wir fertig sind, kommen wir und holen euch ab.“ Als es Mittag war, teilte Gretel ihr Brot mit Hänsel, der sein Stück auf den Weg gestreut hatte. Dann schliefen sie ein, und der Abend verging; aber niemand kam zu den armen Kindern. Sie erwachten erst in der finstern Nacht, und Hänsel tröstete sein Schwesterchen und sagte: „Wart nur, Gretel, bis der Mond aufgeht, dann werden wir die Brotbröcklein sehen, die ich ausgestreut habe, die zeigen uns den Weg nach Haus.“ Als der Mond kam, machten sie sich auf, aber sie fanden kein Bröcklein mehr, denn die viel tausend Vögel, die im Walde und im Felde umherfliegen, die hatten sie weggepickt. Hänsel sagte zu Gretel: „Wir werden den Weg schon finden.“ Aber sie fanden ihn nicht. Sie gingen die ganze Nacht und noch einen Tag von Morgen bis Abend, aber sie kamen aus dem Wald nicht heraus und waren so hungrig, denn sie hatten nichts als die paar Beeren, die auf der Erde standen. Und weil sie so müde waren, dass die Beine sie nicht mehr tragen wollten, so legten sie sich unter einen Baum und schliefen ein.

Nun war’s schon der dritte Morgen, dass sie ihres Vaters Haus verlassen hatten. Sie fingen wieder an zu gehen, aber sie gerieten immer tiefer in den Wald, und wenn nicht bald Hilfe kam, mussten sie verschmachten. Als es Mittag war, sahen sie ein schönes, schneeweisses Vögelein auf einem Ast sitzen, das sang so schön, dass sie stehen blieben und ihm zuhörten. Und als es fertig war, schwang es seine Flügel und flog vor ihnen her, und sie gingen ihm nach, bis sie zu einem Häuschen gelangten, auf dessen Dach es sich setzte, und als sie ganz nahe herankamen, so sahen sie, dass das Häuslein aus Brot gebaut war und mit Kuchen gedeckt; aber die Fenster waren von hellem Zucker. „Da wollen wir uns dranmachen,“ sprach Hänsel, „und eine gesegnete Mahlzeit halten. Ich will ein Stück vom Dach essen, Gretel, du kannst vom Fenster essen, das schmeckt süss.“ Hänsel reichte in die Höhe und brach sich ein wenig vom Dach ab, um zu versuchen, wie es schmeckte, und Gretel stellte sich an die Scheiben und knupperte daran. Da rief eine feine Stimme aus der Stube heraus:

„Knupper, knupper, Kneischen,
Wer knuppert an meinem Häuschen?“

Die Kinder antworteten:

„Der Wind, der Wind,
Das himmlische Kind,“

und assen weiter, ohne sich irre machen zu lassen. Hänsel, dem das Dach sehr gut schmeckte, riss sich ein grosses Stück davon herunter, und Gretel stiess eine ganze runde Fensterscheibe heraus, setzte sich nieder und tat sich wohl damit. Da ging auf einmal die Türe auf, und eine steinalte Frau, die sich auf eine Krücke stützte, kam herausgeschlichen. Hänsel und Gretel erschraken so gewaltig, dass sie fallen liessen, was sie in den Händen hielten. Die Alte aber wackelte mit dem Kopfe und sprach: „Ei, ihr lieben Kinder, wer hat euch hierher gebracht? Kommt nur herein und bleibt bei mir, es geschieht euch kein Leid.“ Sie fasste beide an der Hand und führte sie in ihr Häuschen. Da ward ein gutes Essen aufgetragen, Milch und Pfannkuchen mit Zucker, Äpfel und Nüsse. Hernach wurden zwei schöne Bettlein weiss gedeckt, und Hänsel und Gretel legten sich hinein und meinten, sie wären im Himmel.

Die Alte hatte sich nur freundlich angestellt, sie war aber eine böse Hexe, die den Kindern auflauerte, und hatte das Brothäuslein bloss gebaut, um sie herbeizulocken. Wenn eins in ihre Gewalt kam, so machte sie es tot, kochte es und ass es, und das war ihr ein Festtag. Die Hexen haben rote Augen und können nicht weit sehen, aber sie haben eine feine Witterung wie die Tiere und merken’s, wenn Menschen herankommen. Als Hänsel und Gretel in ihre Nähe kamen, da lachte sie boshaft und sprach höhnisch: „Die habe ich, die sollen mir nicht wieder entwischen!“ Früh morgens, ehe die Kinder erwacht waren, stand sie schon auf, und als sie beide so lieblich ruhen sah, mit den vollen roten Backen, so murmelte sie vor sich hin: „Das wird ein guter Bissen werden.“ Da packte sie Hänsel mit ihrer dürren Hand und trug ihn in einen kleinen Stall und sperrte ihn mit einer Gittertüre ein. Er mochte schrein, wie er wollte, es half ihm nichts. Dann ging sie zur Gretel, rüttelte sie wach und rief: „Steh auf, Faulenzerin, trag Wasser und koch deinem Bruder etwas Gutes, der sitzt draussen im Stall und soll fett werden. Wenn er fett ist, so will ich ihn essen.“ Gretel fing an bitterlich zu weinen; aber es war alles vergeblich, sie musste tun, was die böse Hexe verlangte.

Nun ward dem armen Hänsel das beste Essen gekocht, aber Gretel bekam nichts als Krebsschalen. Jeden Morgen schlich die Alte zu dem Ställchen und rief: „Hänsel, streck deine Finger heraus, damit ich fühle, ob du bald fett bist.“ Hänsel streckte ihr aber ein Knöchlein heraus, und die Alte, die trübe Augen hatte, konnte es nicht sehen und meinte, es wären Hänsels Finger, und verwunderte sich, dass er gar nicht fett werden wollte. Als vier Wochen herum waren und Hänsel immer mager blieb, da überkam sie die Ungeduld, und sie wollte nicht länger warten. „Heda, Gretel,“ rief sie dem Mädchen zu, „sei flink und trag Wasser! Hänsel mag fett oder mager sein, morgen will ich ihn schlachten und kochen.“ Ach, wie jammerte das arme Schwesterchen, als es das Wasser tragen musste, und wie flossen ihm die Tränen über die Backen herunter! „Lieber Gott, hilf uns doch,“ rief sie aus, „hätten uns nur die wilden Tiere im Wald gefressen, so wären wir doch zusammen gestorben!“ – „Spar nur dein Geplärre,“ sagte die Alte, „es hilft dir alles nichts.“

Frühmorgens musste Gretel heraus, den Kessel mit Wasser aufhängen und Feuer anzünden. „Erst wollen wir backen,“ sagte die Alte, „ich habe den Backofen schon eingeheizt und den Teig geknetet.“ Sie stiess das arme Gretel hinaus zu dem Backofen, aus dem die Feuerflammen schon herausschlugen „Kriech hinein,“ sagte die Hexe, „und sieh zu, ob recht eingeheizt ist, damit wir das Brot hineinschieben können.“ Und wenn Gretel darin war, wollte sie den Ofen zumachen und Gretel sollte darin braten, und dann wollte sie’s aufessen. Aber Gretel merkte, was sie im Sinn hatte, und sprach: „Ich weiss nicht, wie ich’s machen soll; wie komm ich da hinein?“ – „Dumme Gans,“ sagte die Alte, „die Öffnung ist gross genug, siehst du wohl, ich könnte selbst hinein,“ krabbelte heran und steckte den Kopf in den Backofen. Da gab ihr Gretel einen Stoss, dass sie weit hineinfuhr, machte die eiserne Tür zu und schob den Riegel vor. Hu! Da fing sie an zu heulen, ganz grauselich; aber Gretel lief fort, und die gottlose Hexe musste elendiglich verbrennen.

Gretel aber lief schnurstracks zum Hänsel, öffnete sein Ställchen und rief: „Hänsel, wir sind erlöst, die alte Hexe ist tot.“ Da sprang Hänsel heraus wie ein Vogel aus dem Käfig, wenn ihm die Türe aufgemacht wird. Wie haben sie sich gefreut sind sich um den Hals gefallen, sind herumgesprungen und haben sich geküsst! Und weil sie sich nicht mehr zu fürchten brauchten, so gingen sie in das Haus der Hexe hinein. Da standen in allen Ecken Kasten mit Perlen und Edelsteinen. „Die sind noch besser als Kieselsteine,“ sagte Hänsel und steckte in seine Taschen, was hinein wollte. Und Gretel sagte:“ Ich will auch etwas mit nach Haus bringen,“ und füllte sein Schürzchen voll. „Aber jetzt wollen wir fort,“ sagte Hänsel, „damit wir aus dem Hexenwald herauskommen.“ Als sie aber ein paar Stunden gegangen waren, gelangten sie an ein grosses Wasser. „Wir können nicht hinüber,“ sprach Hänsel, „ich seh keinen Steg und keine Brücke.“ – „Hier fährt auch kein Schiffchen,“ antwortete Gretel, „aber da schwimmt eine weisse Ente, wenn ich die bitte, so hilft sie uns hinüber.“

Da rief sie:

„Entchen, Entchen,
Da steht Gretel und Hänsel.
Kein Steg und keine Brücke,
Nimm uns auf deinen weissen Rücken.“

Das Entchen kam auch heran, und Hänsel setzte sich auf und bat sein Schwesterchen, sich zu ihm zu setzen. „Nein,“ antwortete Gretel, „es wird dem Entchen zu schwer, es soll uns nacheinander hinüberbringen.“ Das tat das gute Tierchen, und als sie glücklich drüben waren und ein Weilchen fortgingen, da kam ihnen der Wald immer bekannter und immer bekannter vor, und endlich erblickten sie von weitem ihres Vaters Haus. Da fingen sie an zu laufen, stürzten in die Stube hinein und fielen ihrem Vater um den Hals. Der Mann hatte keine frohe Stunde gehabt, seitdem er die Kinder im Walde gelassen hatte, die Frau aber war gestorben. Gretel schüttelte sein Schürzchen aus, dass die Perlen und Edelsteine in der Stube herumsprangen, und Hänsel warf eine Handvoll nach der andern aus seiner Tasche dazu. Da hatten alle Sorgen ein Ende, und sie lebten in lauter Freude zusammen. Mein Märchen ist aus, dort lauft eine Maus, wer sie fängt, darf sich eine grosse Pelzkappe daraus machen.

200. Der goldene Schlüssel

Zur Winterszeit, als einmal ein tiefer Schnee lag, mußte ein armer Junge hinausgehen und Holz auf einem Schlitten holen. Wie er es nun zusammengesucht und aufgeladen hatte, wollte er, weil er so erfroren war, noch nicht nach Haus gehen, sondern erst Feuer anmachen und sich ein bißchen wärmen. Da scharrte er den Schnee weg, und wie er so den Erdboden aufräumte, fand er einen kleinen goldenen Schlüssel. Nun glaubte er, wo der Schlüssel wäre, müßte auch das Schloß dazu sein, grub in der Erde und fand ein eisernes Kästchen. „Wenn der Schlüssel nur paßt!“ dachte er, „es sind gewiß kostbare Sachen in dem Kästchen.“ Er suchte, aber es war kein Schlüsselloch da, endlich entdeckte er eins, aber so klein, daß man es kaum sehen konnte. Er probierte und der Schlüssel paßte glücklich. Da drehte er einmal herum, und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen.

Ende